Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 30. April 2007, Heft 9

Bodensatz obenauf

von Gerd Kaiser

Daniel Passent, Jahrgang 1938, als Kind dem antisemitisch motivierten Tod im »Weltanschauungskrieg«, der in deutschen Uniformen in die Welt getragen worden war, gerade noch von der Schippe gesprungen, trat 1958 in die Redaktion der im Jahr zuvor gegründeten polnischen Zeitschrift Polityka ein. Sie begeht derzeit in einer Serie von Veranstaltungen ihren 50. Geburtstag. Der respektablen Wochenschrift, die derzeit in einer Auflage von mehr als 300000 Exemplaren erscheint, gehört er auch heute noch an. Ihm und dem langjährigen Chefredakteur Mieczysław Rakowski ist Erhellendes zum Thema Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA am Beispiel des Umgangs mit jenen Erinnerungen zu verdanken, die Adolf Eichmann in den Jahren 1957 bis 1959 in einem Vorort von Buenos Aires auf 68 Tonbändern fixierte. Das war, bevor er verhaftet und nach Israel verbracht wurde.
Die Tonbandaufzeichnungen hielten lange Gespräche fest, die Eichmann mit dem Österreicher Dr. Langer, einem Mitarbeiter des deutschen Spionagedienstes während des Zweiten Weltkrieges, und mit dem holländischen Journalisten Wilhelm A. Sassen führte, der sich der SS zugesellt hatte. »All das, was ich hier gesagt habe, soll nach meinem Tod der Forschung dienen, aber solange ich lebe, will ich damit nichts mehr zu tun haben. Auf keinen Fall will ich aus dem Untergrund auf die Bühne kommen«, bestimmte Eichmann.
Die Tonbänder wurden »verschriftet«, die insgesamt 1258 Manuskriptseiten sorgfältig von Eichmann durchgesehen und eigenhändig penibel korrigiert. Spätere kriminologische Gutachten bestätigten eindeutig die Urheberschaft Eichmanns. Eine Abschrift des Manuskripts befand sich in der Hand von Dieter Eichmann, Sohn Adolf Eichmanns. Nach Verhaftung des Vaters 1960 stellte dieser die Aufzeichnungen dem 1952 vom letzten stellvertretenden »Reichspressechef« Helmut Sündermann gegründeten neonazistischen Druffel-Verlag im bayerischen Leonie am Starnberger See zur Verfügung. Eine weitere der Textfassungen gelangte in die Hände von Eichmanns Bruder, einem Anwalt im österreichischen Linz.
Life, die amerikanische Zeitschrift, druckte 1961 knappe und willkürlich gewählte, vor allem jedoch veränderte Bruchstücke des Manuskripts ab, für das man dem erwähnten SS-Mann Sassen sehr viel Geld bezahlt hatte. Unvermittelt und ohne ein Wort der Erklärung brach Life die Veröffentlichung dann jedoch plötzlich ab. Seitdem die CIA am 7. Juni vorigen Jahres 27000 Dokumente für die öffentliche Benutzung freigegeben hat, wissen wir, wer und warum seine Hand im Spiel dabei hatte. Es stellte sich heraus, daß die amerikanische Spionage lange vor dem israelischen Mossad gewußt hatte, wo sich Adolf Eichmann aufhielt. Den Dokumenten zufolge waren die USA nicht daran interessiert, Eichmanns Versteck preiszugeben. Man sah sowohl durch die Verhaftung als auch die Veröffentlichung »unkontrolliert« entstandener Eichmann-Memoiren US-amerikanische Interessen in der Bundesrepublik Deutschland bedroht.  Konterkariert wurden die Absichten der USA, die Erinnerungen zu »deckeln«, durch eine mehrteilige Veröffentlichung der Eichmannschen Aussagen in der Polityka.
Geholfen, daß eine der verschrifteten Tonbandaufnahmen nach Warschau kam, hatte neben dem deutschen Journalisten und Filmemacher Thomas Harlan der Österreicher Hermann Langbein, ein ehemaliger Auschwitz-Häftling. Er hatte das Manuskript im Rechtsanwaltbüro von Eichmanns Bruder aufgespürt. Harlan wollte das Material im Verlag Książka i Wiedza (Buch und Wissen), versehen mit einem wissenschaftlichen Kommentar, veröffentlichen. Der junge Journalist Daniel Passent bekam von ihm eine Kopie des Manuskripts. Dessen Polityka begann Mitte Mai 1961 unter der Schlagzeile Die Bekenntnisse des Mörders Adolf Eichmann mit dem Abdruck. Die internationale Öffentlichkeit kam nicht umhin, diese Veröffentlichungen zur Kenntnis zu nehmen. Eine Ausnahme: die Presse der »Bruderländer«. Keines ihrer Massenmedien nahm Notiz von der Sensation. Der Warschauer Korrespondent des Berliner Rundfunks erbat eine Woche nach der ersten Veröffentlichung eine Nummer der (vergriffenen) Zeitschrift, weil er sie nicht gelesen habe – Rakowski beschimpfte ihn deshalb in seinem Tagebuch als Mistfink.
Und Hauser, Israels Generalstaatsanwalt, nahm – obwohl sich Kopien der Eichmann-Erinnerungen in seiner Hand befanden – erst nach der Warschauer Veröffentlichung dessen Aussagen offiziell zu den Beweisunterlagen; allerdings nur 83 Seiten.
Die Veröffentlichung in der Polityka hatte Mitte Mai 1961 mit der Information begonnen: »Noch vor fünf Monaten befand sich das Original dieses Manuskripts im Haus von Vera Eichman (der Ehefrau) in Argentinien. In unserer heutigen Ausgabe der Polityka beginnen wir mit dem Abdruck der interessantesten Fragmente. (…) Wir haben mit seiner Veröffentlichung abgewartet, um zu sehen, ob das Vorhandensein dieses Dokuments in den Händen der Staatsanwaltschaft (Israels) den bisher eingeschlagenen Weg der Anklage verändert, oder ob er Licht auf jene Personen wirft, die Eichmann benannt hat. Aber wie lange kann man warten?«
Eichmann hatte bei seinem Mordwerk mit einigen hundert Personen dienstliche Kontakte gehabt. Bereits in der ersten der insgesamt sechs Folgen, die mit Faksimiles und Fotos ergänzt wurden, kam er auf 51 Personen zu sprechen. Unter ihnen:
Otto Ambros, Direktor der zu IG Farben gehörenden Bunawerke in Monowice (bei Auschwitz) – in diesem Rüstungswerk der deutschen Chemieindustrie, das gemeinsam mit der SS in Auschwitz-Birkenau betrieben wurde, waren tausende Häftlinge zu Tode geschunden worden. Otto Ambros saß 1961, während Eichmann vor seinen Richtern stand, im Aufsichtsrat der Scholven-Chemie in Mannheim;
Kurt Becher, Chef einer Wirtschaftsabteilung der SS in Ungarn, der jenes »Geschäft« eingefädelt hatte, das den »Tausch« von einer Million Juden gegen 10000 LKW für die Wehrmachtskriegführung vorsah, war 1961 Besitzer des Handelsunternehmens Kurt A. Becher in Bremen;
Hans Globke, Entscheidungsträger im Innenministerium des NS-Staates von 1933 bis 1945, Verfasser und Kommentator der rassistischen Nürnberger Gesetze, Kronzeuge der Anklage in den Nürnberger Prozessen, bis 1949 tätig in der Aachener Kommunalbehörde, amtierte 1953 bis 1963 als Leiter des Bundeskanzleramtes unter Konrad Adenauer;
Theodor Grel, engster Mitarbeiter Eichmanns in Budapest, der niemals angeklagt und verurteilt worden war, betätigte sich 1961 im Panzerschrankgeschäft in Bayern (Breitbrunn);
Ludwig Hahn, der als Polizeichef die Deportierung der Ghetto-Bewohner Warschaus in das Vernichtungslager Treblinka geleitet hatte, war bis 1960 ungeschoren Rechtsanwalt in Hamburg gewesen und wurde zur Zeit des Eichmann-Prozesses in Jerusalem in Haft genommen;
Wilhelm Hoettl, Stellvertreter des Chefs des Amtes VI im Reichssicherheits-Hauptamt, der in Budapest und Wien gewirkt und nach Kriegsende sich den amerikanischen Diensten als Spitzel angedient hatte, leitete 1961 als Direktor eine Schule in Bad Aussee;
Emil Puhl, Stellvertreter des Reichsbankpräsidenten im NS-Staat arbeitete 1961 als Banker in Hamburg;
Franz Alfred Six, eine Zeitlang Vorgesetzter Adolf Eichmanns, nach 1945 Fabrikdirektor in Bonn, nahm man zum Zeitpunkt des Eichmann-Prozesses 1961 in Jerusalem in Haft;
Eberhardt von Thadden, Abteilungsleiter im Reichsaußenministerium des NS-Staates, der gemeinsam mit Eichmann Deportierungen veranlaßt beziehungsweise ermöglicht hatte, wurde nach 1945 niemals belangt und war 1961 Unternehmer in Köln.
Der größte Teil dieses Bodensatzes des deutschen Antisemitismus hatte zum Zeitpunkt des Eichmann-Prozesses in Jerusalem in gutbürgerlichen Positionen seine Karrieren, die in der Weimarer Republik und im Dritten Reich begonnnen worden waren, in der Bundesrepublik Deutschland fortgesetzt.

Polityka, Warszawa, 10. März 2007, Mieczysław Rakowski: Dzienniki polityczne (Politische Tagebücher). 1958-1962, Warszawa 1998