von Heerke Hummel
In seiner Satire Michel schlägt zurück macht Jörg Hellmann mit der Ahnenfolge der Familien (nomen est omen) Deutscher und Wendehals in deutschen Landen seit 1789 (!) bekannt und beschreibt aus der Perspektive etwa des Jahres 2020 und als Historie genannter Sippen einen Vorgang, den wir zur Zeit tatsächlich zu erleben scheinen, nämlich den Niedergang Deutschlands am Beginn dieses neuen, 21. Jahrhunderts bis zur »Großen Wende« von 2010. Der Bund der Steuerzahler erhält bei den Bundestagswahlen 81,2 Prozent der abgegebenen Stimmen und kann mit Zweidrittelmehrheit Grundgesetzänderungen beschließen, um seine rigorosen Wahlversprechen einzulösen und eine Neuorganisation des gesamten öffentlichen Lebens in Gang zu setzen. Ein Gelehrtenkonvent wird einberufen und in nur drei Monaten die neue »Verfassung Deutschlands« entworfen. So kommt das verschüttete Tugendsystem der Deutschen, auf dem das Funktionieren einer Gesellschaft ruht, wieder zum Tragen: Ehrlichkeit, Fleiß, Pflichtbewußtsein, Pünktlichkeit, Höflichkeit, Ordnungsliebe, Sauberkeit und Gesetzestreue. In Windeseile werden Spendenskandale und Korruptionssumpf beseitigt, und das Volk der Dichter und Denker findet bald zu seinen alten Stärken zurück.
Jörg Hellmann, Lehrer, legt mit gesundem Menschenverstand den Finger in offene Wunden – nicht nur – deutscher Politik. Daß er offensichtlich die Linke.PDS noch mehr verachtet als SPD und andere Parteien – bei »seinen« Wahlen 2010 läßt er auch die SPD mit 3,6 und die CDU/CSU mit 4,8 Prozent der Stimmen an der Fünfprozenthürde scheitern –, macht sein Buch nicht weniger lesenswert.
Vor zunehmender Politikverdrossenheit ist auch die Linke nicht gefeit, wenn sie es nicht schafft, sich im Politikstil und im Politikinhalt deutlich von anderen Parteien abzuheben. Das betrifft nicht zuletzt die Art und Weise, wie man sich mit Kritiken aus der eigenen Basis auseinandersetzt und solche zum Anlaß nimmt, sachliche Klarheit zu schaffen, anstatt die Kritiker anzugreifen. Und es berührt schließlich auch eindeutige Aussagen darüber, wofür man in Koalitionen nicht – mehr – zur Verfügung steht.
Eine solche Klarstellung könnte sich beispielsweise auf die Altersvorsorge beziehen, die von der SPD im Bunde mit den anderen Parteien mehr und mehr zur Privatsache jedes einzelnen gemacht zu werden droht. Vor genau fünfzig Jahren wurde mit der sogenannten Großen Rentenreform der BRD bezweckt, »daß die staatliche Rente nicht mehr nur ein Zuschuß zum Lebensunterhalt im Alter, sondern ein Lohnersatz sein soll, und daß die Rentner während der Rentenlaufzeit an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilnehmen«, wie der »Rentenpapst« Professor Winfried Schmähl erst kürzlich wieder wissen ließ. Was damals in der sozialen Auseinandersetzung mit der DDR gewiß zu einem Gutteil auch politisch motiviert war, entsprach nichtsdestoweniger doch dem ökonomischen Erfordernis veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse.
Denn infolge eines bisher nicht gekannten Tempos im Wandel – der Begriff Fortschritt scheint mir zu wenig aussageneutral zu sein – von Wissenschaft und Technik erleben wir rasante Veränderungen in allen Lebensbereichen der menschlichen Gesellschaft, nicht zuletzt in der Wirtschaft und in den sozialen Beziehungen. Alles befindet sich in sichtbarer und vom einzelnen erlebter Veränderung, nichts ist, wie es noch vor kurzem war.
Wollte man die allgemeine Richtung dieser schneller werdenden Bewegung ausdrücken, so wäre das wohl treffend mit dem Begriff Vergesellschaftung möglich. Das Individuum ist heute in seiner Existenz vergesellschaftet wie nie zuvor und in all seinen Lebensäußerungen von der Geburt bis zu seinem Tode mehr und mehr auf die Gesellschaft angewiesen. Es lebt, lernt, arbeitet und konsumiert nicht nur in der Gesellschaft, sondern in immer höherem Grade auch durch die anderen. Und der einzelne trifft auch seine Vorsorge fürs Alter längst nicht mehr allein, sondern ist, wenn seine Kräfte eines Tages ermatten, auf die anderen angewiesen. Er kann sich für diesen Fall gar nicht sachlich bevorraten, denn kein Gut würde die Zeit überdauern.
Und Geld und Finanzen? Auch sie unterliegen der zunehmenden Instabilität, sind heute nicht das, was sie gestern noch waren oder morgen sein werden. Und das nicht nur wegen inkompetenter Manager und korrupter Politiker, sondern vor allem wegen der sich dauernd ändernden technischen, ökonomischen und sozialen Wirklichkeit. Skrupellose Spekulationsgeschäfte in den Chefetagen von Konzernen und Fondsgesellschaften mit den Ersparnissen von Generationen beschwören allerdings tatsächlich immer wieder dramatische Schicksale von Millionen Menschen herauf, die der Illusion aufgesessen sind, mit privaten Finanzeinlagen den Lebensabend abgesichert zu haben, und quasi über Nacht den Verlust erleben müssen.
Welche Summen vernichtet werden können, zeigte erst vor kurzem der Fall des US-amerikanischen Anbieters für Finanzanlagen Amaranth Advisors, der 6,6 Milliarden Dollar, das waren zwei Drittel des Fondswertes, im Spätsommer 2006 bei spekulativen Termingeschäften mit Erdgas verzockte. Wie üblich bei Hedge-Fonds, meldete der Anbieter daraufhin Insolvenz an, was für die betroffenen Anleger fatal war. Zu letzteren zählte auch der Pensionsfonds der öffentlich Beschäftigten des US-Bundesstaates New Jersey. Dessen Leitung jedoch will die Beteiligungen an Hedge-Fonds künftig nicht einstellen, sondern im Gegenteil noch ausbauen. Schließlich fehlen der Pensionskasse schon jetzt dreißig Milliarden Dollar, und die erhofften hohen Renditen von Hedge-Fonds sollen dies ausgleichen. Es ist ein Roulette im internationalen Spielcasino der Wirtschaft – allerdings nicht mit dem eigenen Privatvermögen der Akteure, sondern mit der ihnen anvertrauten Altersvorsorge gutgläubiger Menschen, mit dem Vermögen der Allgemeinheit.
Zugrunde liegt all dem der irrationale, an den mittelalterlichen Hexenwahn erinnernde Glaube, Geld und Finanzen könnten sich aus sich selbst heraus wie Mäuse vermehren. Dabei leisteten schon die englischen Ökonomen des 17. und 18. Jahrhunderts Aufklärung über den Ursprung des gesellschaftlichen Reichtums, den sie in der produktiven Arbeit des Menschen sahen. Wer heute – die Erkenntnisse der klassischen bürgerlichen Ökonomie, von Marx ganz zu schweigen, in den Wind schlagend – auf der Basis finanztheoretischer Wahnvorstellungen die Zukunft von Menschen absichern will, gehört nicht in politische Ämter, sondern wegen Gefährdung des Gemeinwohls vor den Richter.
Jörg Hellmann: Michel schlägt zurück. Schlimmer als die Vermutung, dass viele Politiker uns belügen, ist die Befürchtung, dass sie glauben, was sie sagen! Hilve Verlag Hildesheim, 176 Seiten, 14,90 Euro
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