Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 22. Januar 2007, Heft 2

Üblichkeiten

von Helge Jürgs

Wenn wir – zum Beispiel als Journalisten – in der DDR dem Volke etwas Schwervermittelbares beizubiegen hatten, erklärten wir es gern für »gesetzmäßig«. Wurde dieser »Hinweis« gar apodiktisch vorgetragen, erübrigten sich weitere Nachfragen. So es solche denn aber doch gab – oder gar Widerspruch –, setzte der Propagandist gewöhnlich zu großer Dialektikvolte an: Irgendwo zwischen der Oktoberrevolution und dem unvermeidlichen Sieg des überlegenen Sozialismus im Weltmaßstab ordnete sich das gerade zu Verklickernde dann folgerichtig ein …
Solcherart Mühe unterziehen sich die heutigen Lufthoheitler, die Vorständler der Großkonzerne, Banken oder Versicherungen, auch Politiker freilich, nicht mehr; selbst in dieser Hinsicht ist man effektiver als im Sozialismus. Wo man dereinst – so es um Unbegreiflichkeiten ging – noch krampfhaft nach irgendwie überzeugenden Argumenten suchte, wird heute ganz sparsam mit wenigen und zudem noch volkstümlichen Vokabeln operiert. »Basta!« war so eine, »alternativlos« eine andere.
Eine der ebenso schlichten wie offenkundig erfolgreichsten Verschleierungsfloskeln lautet »Das Übliche«. Ob nun ein Konzernvorstand bei gleichzeitiger Massenentlassung seine Bezüge um ein Drittel erhöht, ob ein geschaßter Politiker auf eine noch höhere Rente klagt, als ihm zunächst zugebilligt, oder ein Bankdirektor seine monatlichen Altersbezüge, die eh schon im Bereich des Jahresverdienstes von »Unterschichtlern« liegen, gerichtlich um ein weiteres Drittel aufzustocken verlangt – es genügt ihnen und ihren Anwälten vollkommen, darauf zu verweisen, daß die geforderten Bezüge anderswo im Lande oder gar international »üblich« seien. Ob diese Leute dann Esser, Welteke, Bernhard, Pischetsrieder oder Eichel heißen, ist ganz ohne Belang. Kein Wort darüber, womit man sich nach eh schon abartigen Gehältern nun auch noch die üppige Dreingabe verdient habe. Kein Wort über die Relation zu den Einkommen derer, die ebenso tagtäglich ihrer Verantwortung nachkommen. Und kein Wort ganz und gar über jene, deren »freigesetzten« Arbeitsplätze den Erfolg der hochdotierten Managertätigkeit überhaupt erst vorausgesetzt haben. Ein Wort, mittlerweile bar jeglicher Scham, genügt: »Wir verlangen nur das Übliche!«
Das einzige, was in diesem Land nicht als üblich empfunden wird, ist Widerstand gegen so viel Parasitismus.