Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 8. Januar 2007, Heft 1

Liebesbriefe in Bildern

von Ignaz Katz, Philadelphia

In einer Zeit, da es in der Bildenden Kunst üblich ist, sich hauptsächlich selbst zu bespiegeln, ist eine Haltung wie sie Jean Bodin mit seiner jüngsten Kunstpublikation – Für M. – Zwiebilder – einnimmt, rar. In 65 Bildern wird vom Umgang zweier Liebender erzählt, der Grundfragen des Daseins – Gott, Liebe und Tod – nicht ausweicht. Die Blumen, Porträts, Szenen, Landschaften und Formen verfremden sich für den Betrachter durch den Kontext, eine Beunruhigung, die durch die einzigen und vorangestellten Worte, ein Zitat aus dem 103. Psalm, 15-16, das Unterbewußte und das Auge lenkt. Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, / erblüht wie eine Blume auf dem Felde; / wenn der Wind darüber geht, / so ist sie nimmer da, und / ihre Stätte kennet sie nicht mehr, heißt es da.
Doch in Bodins Zwiebildern widersetzt sich die Hingabe an das Leben dem Wissen um den tödlichen Ausgang der Krankheit der Geliebten. »Wenn es ernst wird, zeigen alle Posen rastloser Betriebsamkeit in die Irre«, sagte der Künstler im November in einem Gespräch. Wie bis in alle Himmel hinauf scheinen seine Bilder den Ängsten und Geheimnissen der Endlichkeit zu trotzen. Es berührt, wie die expressive Kraft des Gestaltungsdrangs, unterworfen allein der Zielsetzung, im Widerspruch zum Unausweichlichen das Miteinander zu behaupten, mit bescheidensten Mitteln – Aquarell, Ölkreide, Filzstifte, Tusche – das Wesentliche festzuhalten vermag.
Es wird fabuliert, das Diesseits ausgemalt. In Bodins Bildern sind Realismus und Abstraktion auch deshalb leicht verbunden, weil sie einen Adressaten haben. Nichts ist auf sich selbst bezogen oder konstruiert. Daher rührt die Wirkung auf den mitempfindenden Beschauer.
Die Bilder sind intim wie eine zufällig gefundene Sammlung von Liebesbriefen, die ihr Geheimnis bewahren, auch wenn sie Fremden in die Hände fallen. Wo die Texte zum Bild ausführlich sind, wurden sie für die Veröffentlichung meist verwischt, um zu Persönliches zurückzuhalten.
Mit dem wiederkehrenden Motiv der Blume (allein in acht Abbildungen) beschwört Bodin ihre Sinndeutung als Mitteilung. Die Blume ist als Opfer und Gabe den Liebenden seit alters her nahe. Mit Farbe, Duft und wechselnder Gestalt bewirken die Blüten den Fortbestand ihrer Art, »mit Nektar und Blütenstaub widerstehen sie der Resignation und dem Gedanken an einen Tod ohne Erlösung«. Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt, wie Knospen und Blühen, das Verwelken und Wiederkehren die Blume zum Sinnbild werden ließen.
Dem Betrachter kommen Boschaert – die Sinndeutung des Buketts –, Renoir – die als räumliches Volumen empfundene Gesamtheit der Blumen – und Chagall – Zeit wie Raum sind beliebig austauschbar – in Erinnerung. Was aber immer auch als Motiv gewählt ist, Bodins Zwiebilder scheinen gleichzeitig und fragmentarisch, überwahr wie ein Traum, auf Messers Schneide angesiedelt.
Mancher Zugriff erinnert an Matisse, etwa an dessen frühe Tanzakrobatin und Trauer des Königs oder auch an den späten Jazz. Die eigenen Mail-Art-Erfahrungen, unter anderem aus der Zusammenarbeit mit dem seinerzeit in der DDR im Exil lebenden chilenischen Künstler Guillermo Deisler am internationalen Peace Dream-Project Univers 1989, sind ebenfalls präsent.
Doch im bedrohlichen Kontext verwandelt sich das Bilderbuch immer wieder auch in ein Lesebuch. Damit kommen die Terzinen des Herzens der Annemarie Bostroem in den Sinn. Oder Ingmar Bergmans Sonntagskinder. Und auch eine Dichtung wie ich an Dich von Dinah Nelken, ein Roman in Briefen mit ebenfalls einer Geschichte und Moral für Liebende und solche, die es werden wollen, scheint wesensverwandt.
Vor allem aber ist Bodins Sicht auf die zwischenmenschlichen Beziehungen der Brechts vergleichbar: Er versetzt den Betrachter in die Lage, das Abgebildete »kritisch aufzuheben«. Damit holt er die Komplexität der Situation unter der diese Bilder-Briefe entstehen, in die Wahrnehmung hinein. Das Unausgesprochene wird zur Fabel. Ihr »Herzstück« ist weder das Bild noch der Alltag der Liebenden, sondern ein unerhört anderer Blick auf das Dasein und seine Fragen, der sich in unser aller Seelen wiederfindet, nicht aus Neigung, sondern aus Not. Die Gewißheit des Psalms ist zu orten, auch wenn wir uns kein Bild von ihr machen. Bodin: »Das Kostbarste entgleitet dir. Die Stille entflieht dir nicht«.

Jean Bodin: Für M. – Zwiebilder 2002-2005, lulu editon 2006, Lulu.com, Rochester, NY, Taschenbuch, deutsch, 64 Seiten, 21,77 Euro, ISBN 978-1-4303-0279-7