Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 24. November 2008, Heft 24

Rakowski – Politik als Leidenschaft

von Holger Politt, Warschau

Nach der Wahl Obamas zum neuen US-Präsidenten stellte er auf seinem Krankenlager die Prognose so: Die Welt werde sich gründlich ändern, es sei denn, der neue US-Präsident falle einem Attentat zum Opfer. Drei Tage später ereilte Mieczyslaw F. Rakowski im Alter von 81 Jahren der Tod. Mit ihm verliert Polen einen legendären Zeitungsmacher, der – ganz seiner Passion für Politik entsprechend – von 1958 bis 1982 die Wochenzeitung »Polityka« leitete. Mit dieser Zeitung wurde Rakowski für das sozialistische Polen zu dem, was Jerzy Giedroyc (1906-2000) mit der in Paris erscheinenden »Kultura« für das Exilpolen oder Adam Michnik mit der Tageszeitung »Gazeta Wyborcza« nach der Wende lange Zeit für das bürgerlich-liberale Polen gewesen war – ein verdienter Glücksfall.
Daß ihn die eigenen Genossen am liebsten einen Revisionisten schimpften, focht ihn wenig an. Er blieb seiner Linie treu – dem Tanz auf dem Seil. Als er die Verantwortung für die »Polityka« übernahm, wurde Imre Nagy hingerichtet. Er durchlebte mit seiner Zeitung die Panzer in Prag, die Panzer an der polnischen Ostseeküste. Er blieb standhaft, und er blieb Sozialist. Der antisemitischen Kampagne, die Polen auf Geheiß der Oberen im März 1968 ereilte, verweigerte er sich, dem Druck auf Person und Redaktion standhaltend. Adam Michnik würdigte seinen verstorbenen Kollegen vom Fach als einen Menschen, der in jenen Märztagen vom Scheitel bis zur Sohle seine Klasse unter Beweis gestellt habe.
Michnik gehörte im März 1968 zu den Studenten, auf deren Proteste die Regierungskampagne zielte. Danach begann er seine Karriere als einer der drei prominentesten politischen Häftlinge der Volksrepublik.
Als im Dezember 1981 Wojciech Jaruzelski mit Hilfe der Panzer die Notbremse zog und das Land vor dem Versinken im Chaos bewahrte, stellte sich Rakowski an dessen Seite, wissend, daß Panzer kein überzeugendes Argument für die Sache des Sozialismus sein können. Wieder tanzte er auf dem Seil. Er konnte noch nicht ahnen, daß wenige Jahre genügen würden, um ihn als jenen Mann zu erleben, der zweifach das Licht ausmachen wird. Als er im Sommer 1989 das Amt des Ministerpräsidenten an Tadeusz Mazowiecki weitergab, endete die Geschichte der Volksrepublik, als er im Januar 1990 das Parteibanner einholen ließ, die der führenden Partei. Den künftigen polnischen Sozialdemokraten gab er mit auf den Weg, keine Angst vor dem demokratischen Sozialismus zu haben.
Als im März 2003 Leszek Miller und Aleksander Kwasniewski für Polens Beteiligung am Bush-Krieg gegen den Irak entschieden, erhob er laut Stimme des Widerspruchs, dabei die Erfahrung machend, daß die Jüngeren es besser zu verstehen meinten. Wenige Jahre zuvor, beim NATO-Krieg gegen Jugoslawien, genügte seine Warnung noch, damit Polens Sozialdemokratie wenigstens nach außen hin den Anstand wahrte. Freilich war sie damals nicht in Regierungsverantwortung und Polen – frisches NATO-Mitglied – noch nicht um militärische »Hilfe« angefragt.
Rakowskis Mutter warf nach Kriegsende einen kostbaren Laib Brot in die Kolonne deutscher Kriegsgefangener, die durch Poznans Osten zogen, obwohl sie wußte, daß es Deutsche gewesen waren, die ihren Mann, den Familienvater, im Herbst 1939 ohne Erbarmen erschossen hatten. Rakowski hatte Tränen in den Augen, als Willy Brandt, der deutsche Bundeskanzler, im Dezember 1970 am Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos niederkniete. Er ließ den Füllfederhalter, mit dem Brandt den Vertrag zwischen Polen und der Bundesrepublik auf Gewaltverzicht und Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze unterzeichnet hatte, mitgehen und setzte ihn in eine Wohnung um, ein Geschäft, das in dieser Weise wohl nur im Sozialismus möglich war: Denn als offizielle Stellen ihn aufforderten, das wertvolle Stück in den Staatsbesitz zurückzuführen, stellte er die Bedingung, daß seine Sekretärin, die seit Jahren auf eine Wohnung wartete, eine solche erhalte.
Die Realitäten des Sozialismus hat Rakowski nie vergessen. Als sich im Dezember 2006 die Ministerpräsidenten, die in Polen und in der DDR den altgewordenen Sozialismus zu Grabe zu tragen hatten, in Warschau ein letztes Mal trafen, bemerkte er beiläufig: »Hans, die Geheimdienste, die Geheimdienste lassen sich nicht kontrollieren.«