Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 29. September 2008, Heft 20

Des Teufels Pferdefuß

von Uri Avnery, Tel Aviv

Ich war erschrocken, als ich die Schlagzeile in Haaretz las. Sie zitierte Sari Nusseibeh: »Es gibt keinen Platz für zwei«, womit gemeint war : zwei Staaten zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan. Was? Hat Nusseibeh seine Unterstützung für eine Lösung aufgegeben, die auf Koexistenz zwischen einem Staat Israel und einem Staat Palästina beruht? Doch die Schlagzeile war eine Verfälschung und hatte nichts mit dem zu tun, was im Interview gesagt worden war.
Vor fünf Jahren veröffentlichte Sari Nusseibeh zusammen mit dem israelischen Admiral – und gegenwärtigen Minister ohne Geschäftsbereich – Ami Ayalon einen Friedensplan mit der Vision der Errichtung eines palästinensischen Staates Seite an Seite mit Israel, mit einer Grenze, die sich etwa an die Grüne Linie hält, und mit Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten. Der Plan war nicht viel anders als der vorausgegangene Gush-Shalom-Friedensplan und die spätere »Genfer Initiative«.
Im Interview sagte Nusseibeh nicht, daß es »keinen Platz für zwei« gebe, sondern im Gegenteil: Er lobte die Zwei-Staaten-Lösung als die beste praktische Lösung. Jedoch warnt er die Israelis: Auf Grund der rapiden Expansion der Siedlungen läuft die Zeit für diese Lösung davon. Er setzte sogar eine Zeitgrenze fest: Ende 2008. Das kommt einem Ultimatum gleich: Wenn die Israelis diese noch vorhandene Gelegenheit verpassen, wenn sie in Ost-Jerusalem und auf der Westbank die Siedlungsbautätigkeit weiterhin beschleunigen, werden die Palästinenser dieser Lösung den Rücken zukehren. Statt dessen werden sie die Annexion der besetzten Gebiete an Israel annehmen, das heißt Israels Herrschaft über das gesamte Land zwischen dem Meer und dem Fluß, und sie werden für die gleichen zivilen Rechte innerhalb des Staates kämpfen.
Nusseibeh hält an die Schläfe der israelischen Öffentlichkeit die demographische Pistole. Er sagt ihr: In solch einem Staat werden die Palästinenser eine große Minderheit sein. Ihr Kampf für Gleichheit wird Israel zwingen, ihnen am Ende die volle Staatsbürgerschaft zu geben. Innerhalb weniger Jahre werden die arabischen Bürger die Mehrheit stellen. Dann ist der zionistische Traum ausgeträumt, der jüdische Staat gestorben. Zipi Livni sagt übrigens im großen und ganzen dasselbe.
Nusseibeh kennt die Israelis gut. Er weiß, daß sie die demographische Obsession verrückt macht. Der demographische Dämon verfolgt sie bis in ihre Träume. Er glaubt deshalb, daß diese Drohung die Israelis zwingen wird, sich zu beeilen und der Zwei-Staaten-Lösung zuzustimmen.
In seinen Augen und in den Augen einiger Intellektueller auf beiden Seiten gibt es zwei Möglichkeiten: die »Zwei-Staaten-Lösung« oder die »Ein-Staaten-Lösung«; ein palästinensischer Staat neben Israel oder ein bi-nationaler Staat, in dem allen Bürgern, Juden und Arabern, die gleichen Rechte gewährt werden. Das ist meines Erachtens eine gefährlich irrige Auffassung. Die »Ein-Staaten-Lösung« ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich selbst. Die Einstaaten-Lösung ist keine Lösung, sondern eine Anti-Lösung. Es ist ein Rezept für einen fortdauernden blutigen Konflikt. Kein Traum, sondern ein Alptraum.
Es gibt überhaupt keine Chance, daß die jüdische Öffentlichkeit – weder in dieser noch in der nächsten Generation – damit einverstanden wäre, daß sie als Minderheit in einem Staat lebt, der von einer arabischen Mehrheit beherrscht wird. 99,99 Prozent der jüdischen Bevölkerung wird sich mit Zähnen und Klauen dagegen wehren.
Die Demographie wird sie zu Dingen antreiben, die heute noch undenkbar sind. Die ethnische Säuberung wird praktisch auf die Agenda kommen. Selbst moderate Israelis werden in die Arme des faschistischen rechten Flügels getrieben. Alle Mittel der Unterdrückung werden akzeptabel sein, wenn die jüdische Mehrheit sich das Ziel setzt, die Araber dahin zu bringen, das Land zu verlassen, bevor sie dazu kommen, die Mehrheit zu werden.
Diejenigen, die wirklich von der Idee des bi-nationalen Staates überzeugt sind, werden sagen: Okay, wir werden noch ein oder zwei Generationen Blutvergießen, einen bürgerkriegsartigen Zustand haben, aber am Ende werden wir die Juden überzeugen oder sie zwingen, den Palästinensern die Staatsbürgerschaft und die Gleichheit der Rechte zuzugestehen. Doch welches Volk wird solch ein Risiko auf sich nehmen?
Die wirkliche Wahl ist deshalb die zwischen der »Zwei-Staaten-Lösung« und der »Lösung durch ethnische Säuberung«. Im besten Fall ist der bi-nationale Staat nur unpraktisch. Ich nehme an, daß Nusseibeh dies auch weiß. In seinen Augen stellt seine Drohung eine Taktik dar. Er geht sogar noch weiter und schlägt vor, diese Drohung sofort in Jerusalem auszuführen.
Die arabischen Bewohner Ost-Jerusalems sind keine israelischen Bürger und dürfen nicht an den Knessetwahlen teilnehmen, doch haben sie das Recht, an den Gemeindewahlen teilzunehmen. Sie haben diese Wahlen jedoch boykottiert, denn ihre Teilnahme hätte die Anerkennung der Herrschaft Israels über Ost-Jerusalem bedeutet. Nusseibeh schlägt jetzt vor, daß die arabischen Bewohner diesen Boykott beenden und eine eigene Wahlliste aufstellen. Da sie inzwischen ungefähr ein Drittel der Stadtbevölkerung ausmachen und die jüdische Mehrheit in Orthodoxe und Säkulare gespalten ist, könnten die Araber in die Lage kommen zu entscheiden, wer der nächste Bürgermeister wird. Nusseibeh weist den Gedanken, selbst für diesen Job zu kandidieren, nicht zurück. Er glaubt, er würde die Juden zu Tode erschrecken.
Der wirkliche Kampf heute geht um die Siedlungen. Er wird überall im Lande ausgefochten, für jede Siedlung, jeden »Außenposten«, jede Umgehungsstraße, jedes Hausprojekt. Es ist ein titanischer Kampf, der überall ausgetragen wird – von der »Har Homa«-Siedlung am Rande Jerusalems bis zur »Trennungsmauer« (die nichts anderes ist als ein Mittel, die Siedlungen zu vergrößern, wie sogar der Oberste Gerichtshof jetzt zugegeben hat). Die Nusseibeh-Taktik zieht all denjenigen unter uns, die wir gegen den täglichen Landraub und die Siedlungen kämpfen, den Teppich unter den Füßen weg – den mutigen Aktivisten, die täglich demonstrieren und beim Kampf gegen die Mauer verletzt werden, bis zu unsern Freunden im Ausland, die in ihren eigenen Ländern versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion gekürzt