von Günter Wirth
Über die »Alten« in unserer Gesellschaft ist in letzter Zeit viel geredet worden, in demographisch-soziologischen Analysen zumal und unter finanzpolitischen Aspekten der Rentenanpassung (»Rentenerhöhung« will nicht in die Feder). Immer von neuem fällt das Stichwort Generationengerechtigkeit. Vor diesem wiederholt emotional angeheizten Hintergrund soll auf eine kleine Schrift hingewiesen werden, in der ein 78jähriger evangelischer Theologe persönlich und bekennerisch über die »Chancen des Alters« meditiert: Klaus-Peter Hertzsch, auch als Schriftsteller ausgewiesener ehemaliger Jenaer Hochschullehrer. Hertzsch, der sich in seiner theologischen Dissertation mit Bonhoeffer und Brecht beschäftigt hat, kann seine Thesen in einem einladenden erzählerischen Duktus so entfalten, daß er nicht nur eine Leserschaft anspricht, die ihm weltanschaulich verbunden ist.
»Die Zeit unseres Lebens ist geschenkte Zeit, geschenkter Reichtum. Wie gehen wir unser Leben lang mit ihm um? … Die deutsche Sprache hat ein merkwürdiges Wort, ja, ein Wort, das mich erschreckt, sooft ich es höre: Zeitvertreib. Da ist offenbar einer damit beschäftigt, das Wertvollste und Unersetzbare, das er in seinem Leben besitzt, zu vertreiben wie ein lästiges Insekt …« Diese Sätze finden sich bei Hertzsch zu dessen These: »Alt sein heißt: mit kurzer Zukunft umgehen lernen.« Im Zusammenhang mit einer anderen These, wonach Zeit des Alterns zu nutzen, heiße, Gegenwart zu gestalten, kommt der Jenaer Theologe zu dieser des Nachdenkens werten Feststellung:
»Alter ist für mich die Zeit der Konzentration, der Vertiefung, der Beheimatung an den Orten meiner eigenen Wahl. Gewiß interessiert mich auch, was die Erzähler von heute erzählen und was die Musiker von heute für eine Musik machen … Aber ich erlaube mir jetzt, auszuwählen, liegenzulassen, abzubrechen, was mir zu fremd ist. Ich muß nicht mehr auf der Höhe der Zeit sein. Es genügt, wenn ich in die Werkstätten und die Wohnungen des modernen Geistes einen Blick werfe, mich aber am liebsten dort aufhalte, wo ich weiß, da bin ich zu Hause …« Und zu Hause ist er bei Stifter und Raabe, bei Thomas Mann, bei Brecht und Benn, bei Bach, Mozart und Brahms …
Daß Hertzsch dennoch »auf der Höhe der Zeit« ist, demonstriert er an mancher Überlegung mit gesellschaftskritischem Akzent. In einer These zur existentiellen Problematik der Erinnerung schreibt er treffend: Heute spiele eine »Bemühung« eine beherrschende Rolle, die man »aufarbeiten« nennt. »Mir ist nicht ganz klar, was dieser und was jener darunter versteht; denn man kann Gewesenes nicht aufarbeiten, wie der Polsterer einen alten Sessel aufarbeitet, und nun ist er wieder wie neu. Für manche bedeutet ›aufarbeiten‹ offenbar Dokumentation, Berichterstattung, Archivierung, für andere eher Beurteilung, Warnung, Mahnung, für wieder andere vor allem Abrechnung, Aufdeckung, Bloßstellung …«
Viele solcher Überlegungen, oft aphoristisch zugespitzt, aber völlig unaufgeregt (wahrhaft »seelsorgerisch«) vorgetragen, finden sich in diesem schönen Büchlein. Um nur noch diese anzuführen: »Ich leugne nicht, daß ich Mühe habe, mich als alter Mann in dieser Welt des großen und oft auch gnadenlosen Wettbewerbs noch zurechtzufinden und heimisch zu fühlen … Ich höre darum auch in meinen alten Tagen nicht auf, nach einer Zeit Ausschau zu halten und Wege zu ihr zu überlegen, in der, wie es bei Brecht heißt, ›der Mensch dem Menschen ein Helfer ist‹ …«
Jedes der sieben Thesenkapitel wird von einem Gedicht Klaus-Peter Hertzschs (er bezeichnet sie bescheiden als Gebrauchsgedichte) abgeschlossen. Er hat sie zu irgendeiner Gelegenheit verfaßt, so im letzten Kapitel, dem recht eigentlich theologischen, eines zum 75. Geburtstag seines Vaters Erich Hertzsch, des bekannten Thüringer religiösen Sozialisten, der noch vielen auch aus den politischen Auseinandersetzungen nach 1945 bekannt ist.
Die letzte Zeile dieses Gedichts lautet, damit die letzte Zeile dieses Buchs: »Noch am Abend brechen wir auf.«
Klaus-Peter Hertzsch: Chancen des Alters. Sieben Thesen, Radius-Verlag Stuttgart 2008, 117 Seiten, 12 Euro
Schlagwörter: Günter Wirth, Klaus-Peter Hertzsch