Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 15. September 2008, Heft 19

Das Toleranzdelikt

von Frank Schubert

Eventuell. Jedenfalls dreht sich schon mal das PR-Karussell. Es werden alle Register gezogen, das sieht nach »großem Theater« aus: Vorlesungen, Diskussionsforen, Auftritte in »prekären« Wohngebieten, Stände beim Volksfest – anläßlich Potsdams »Langer Nacht« –, Flyer noch und noch, Interviews, Artikel, riesige whiteboards (die Initiatoren sollten sie kontrollierend bereisen – Volksmund hat viel Wahrheit im Mund!), Broschüren, Internetauftritt (www.potsdamer-toleranzedikt.de). Dahinter steckt Geld. Und der Politikwissenschaftler Heinz Kleger von der Potsdamer Universität. Doch was steckt im Projekt?
Man will publikumswirksam anknüpfen an des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg »Edikt von Potsdam« vom 20. Oktober 1685, in dem der seinen in Frankreich verfolgten calvinistischen Glaubensbrüdern, den Hugenotten, schnörkellos Einbürgerung, Steuerfreiheit und Fördergelder sowie staatlich bezahlte Pfarrstellen bot. Das vom Dreißigjährigen Krieg ziemlich ramponierte und fast entvölkerte Potsdam bekam einen kräftigen demographischen, ökonomischen und kulturell-geistigen Schub. Das sieht erst einmal stimmig aus. Obwohl man natürlich fragen könnte: Warum denn jetzt ein neues Edikt? Welches Defizit gilt es heutzutage zu beseitigen? Es wird doch nicht etwa ein Ost-Problem sein – denn Potsdam liegt schließlich im Osten und zählt zu seinen Bürgern solche einstigen Amtspersonen wie ZK-Mitglied Günter Jahn, Staatsratsmitglied Brunhilde Hanke oder den Evangelischen Superintendenten Manfred Stolpe … Sehen wir uns einige Edikt-Positionen doch genauer an.
Toleranz ist die Voraussetzung für Problemlösungen, indem sie ein Aufeinanderzugehen und Miteinander Reden ermöglicht. Na, toll. So denken wohl auch die deutschen Medien, wenn sie – zum Beispiel – jüngst verdi übel attackieren und bespucken wegen des aktuellen Streiks bei der verdi. »Ausgerechnet in der Ferienzeit!« Ja, wann denn sonst? Gut gewählt, da zeigt es Wirkung.
Nur demokratisch aufgeklärt und tolerant können wir noch auf unsere Gegenwarts- und Zukunftsprobleme reagieren. Demokratisch ist – so wurde es 1989 in Leipzig deklamiert: »Wir sind das Volk!« Gut gebrüllt, doch in Potsdam können derzeit – zum Beispiel – OB und Magistrat ihren Wahlbürgern nicht einmal einen vom gemeinen Bürger frei passierbaren Uferweg am Griebnitzsee verschaffen, den besitzgeile und moralisch nicht ansprechbare Villenbesitzer für sich reklamieren.
Und was heißt in Potsdam eigentlich »aufgeklärt« im Falle jener West-Juristen, die ungerechtfertigt 12,3 Millionen Euro Trennungsgeld kassierten und trotz rechtskräftiger Verurteilung aller Angeklagten bisher nur 130000 Euro zurückzahlten?
Falls die Initiatoren eines neuen Edikts von Potsdam ihr Toleranzprogramm über die Kommunalgrößen Jan Jacobs, Sven Petke, Mathias Platzeck, Jörg Schönbohm und Katharina Reiche hinaus, also bundesweit, installiert sehen wollen, müßten sie von ihrer Verwaschenheit lassen und gesamtgesellschaftliche Knackpunkte ins Visier nehmen: Armut, Afghanistankrieg, Migrationspolitik, Bildungswesen …
Wenn diese Hinwendung zu existentiellen Fragestellungen nicht erfolgt, bleiben letztlich nur Augenauswischerei, Scheingefechte und Demokratiegefasel sowie die ziemlich unverblümte Profilierung und Meritensammelkampagne eines Politikwissenschaftlers mit festem Lehrstuhl. Er beutelt die Geschichte, auf die viele hier in der Landeshauptstadt meinen, stolz sein zu können. Er mißbraucht das politische Interesse und den politischen Willen von Bürgern.
Selbst auf die Gefahr hin, der Kalauerei bezichtigt zu werden: Es handelt sich wohl eher um ein Toleranzdelikt als um ein Toleranz-Edikt.