Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 1. September 2008, Heft 18

Tintenpisser

von Klaus Hansen

Buchmesse: Jungautorenauftrieb in der Koje des Verlages Die Kommenden. Das ist der Verlag mit dem pausbäckigen Zwiebackbub im Wahrzeichen. Die hoffnungsvollen Talente schenken sich nichts. Sagt der eine, im Ton weit über der hohen Nase: Ich habe das Material für wenigstens zwei Romane! Fragt der andere tief unter die Gürtellinie: Hast du auch das Zeug dazu?
Flausen, Ticks und Macken: Viele Männer, jedenfalls mehr als Frauen, nennen sich Schriftsteller und schreiben unentwegt ins Blaue. Die meisten von ihnen werden nicht gedruckt. Von denen, die gedruckt werden, bezahlen die meisten den Druck selbst. Von denen, die es bis zum Buch schaffen, werden die meisten nicht gelesen. Von denen, die gelesen werden, bleiben die meisten ohne einen Ton der Resonanz. Darum müssen sich die meisten Schriftsteller ihre Bedeutung einreden und sich ihre Anerkennung selber zollen. Abschaffel meint, das sei eine ungesunde Tätigkeit, die mit dem Preis individueller Verschrobenheiten bezahlt wird. Wer nichts anderes mehr liest als seine eigenen unbeachteten Werke und sich täglich seiner Großartigkeit versichert (möglichst dreimal am Tag, wie es die Selbsthilfegruppe empfiehlt), ohne daß auch nur ein einziger anderer seinem Beispiel folgte, der verzeiht womöglich der Welt ihre Dummheit nicht und macht unüberlegte Sachen. Oder er bleibt genügsam wie Günter Eich: In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim. / Das sind schon zwei.
Wer gedruckt wird, zumal als junger Autor, ohne dafür zu bezahlen, und obendrein noch gratis in Funk und Fernsehen besprochen wird, der kann sein Glück zunächst kaum fassen, bis er begreift, daß wir in einer »Mediengesellschaft« leben: Mit einem einzigen TV-Beitrag über sein Buch verdient der Journalist das Mehrfache dessen, was der Autor je an Honorar erhalten wird: In Mainz, bei »aspekte«, / weiß ich einen, der mich bespricht, / und in Hamburg, bei »titel thesen temperamente«. / Das sind schon zwei, / die von meiner Arbeit leben, / von der ich selber nicht leben kann.
Was »Schreiben« heißt? Nichts zu sagen haben und es dennoch sagen? Eine Kombination aus Ohnmacht und Trotz? »Fick dein Tintenfaß«, antwortete Flaubert.
Bestsellerschmiede: »Die Zutaten liegen auf der Hand!« Ein bekannter Komiker pilgert nach Santiago de Compostela, schreibt auf, was er glaubt erlebt zu haben, nämlich nichts weniger als ein neuer Mensch geworden zu sein, und steht zwei Jahre an der Spitze der Bestsellerliste. Eine junge Fernsehansagerin schildert die Geheimnisse ihrer Morgentoilette. 200 Seiten über körpereigene Ausflüsse und den Geschmack des Smegma unter der Vorhaut eines One-night-Stenz. Das Untenrum-Buch verkauft sich »wie blöde«, hier ist der Ausdruck angebracht. Es verkauft sich schneller, als die Druckerei drucken konnte. »Die Zutaten für einen Megaseller liegen ganz klar auf der Hand«, wiederholt sich Verleger Eduard Zins von Zinseszins, »Ekelprosa plus Gottsuche – das ist das ganze Geheimnis!« Jetzt braucht es nur noch einen Lohnschreiber vom Kaliber eines Unheil oder Kohlhaup, beides aus der Kutte gesprungene Priester und leidenschaftliche Pornographen, um den Mega-Hit auch tatsächlich zu landen. Einen Arbeitstitel hat Eduard Zins von Zinseszins bereits im Kopf: »Vagina-Dialoge auf dem Sankt Jakobsweg«.
Kultursommer Poll-Porz: Die Sprache der Landung des ersten Menschen auf dem Mond ist gerade groß genug, um den Rang des Ereignisses zu würdigen. »Ein kleiner Schritt für den Dichter, ein großer Schritt für die Dichtung!« Mit diesen Worten eröffnet Eventmanager Schmitz den Kultursommer Poll-Porz. Auf dem Programm steht die »Lange Nacht der Poeten«. Der unbekannten Poeten, muß hinzufügen, wer die Namensliste gelesen hat. Der kleine beziehungsweise große Schritt besteht darin, daß die namenlosen Poeten heute Abend den weltabgeschiedenen Elfenbeinturm verlassen und in die Fußgängerzone hinabsteigen, um sich zwischen Tengelmann und Burgerking als »Dichter zum Anfassen« zu präsentieren. So etwas hat es in Poll-Porz noch nicht gegeben. Man verspricht sich eine Menge davon. Bürgermeister Wimmer schlüpft in die Pose des Visionärs und sagt einen »positiven Kulturschock« voraus. Kritische Stimmen, die warnen, von der Berührung Namenloser einen Standortvorteil für Poll-Porz zu erwarten, finden heute Abend kein Gehör.
Autorenlesung: »Bücher sind ein Picknick, zu dem die Autoren die Wörter und die Leser – oder im Falle einer Lesung: die Hörer – die Bedeutungen mitbringen.« So begrüßte der namhafte Autor die Anwesenden. Er zählte zwölf Zuhörer im Saal, der für hundert bestuhlt war. Vier Besucher interessierten ihn besonders. Weil er sie nicht kannte. Die übrigen acht waren Freunde und Verwandte. Aber diese vier Fremden, was führten sie im Schilde? Warum waren sie hier? Nur weil der Eintritt frei war? Nur weil es draußen regnete und sie ein trockenes Plätzchen ohne Verzehrzwang suchten? Oder hatten sie in seinem neuen Buch alle Stellen unterstrichen, die er anderswo abgeschrieben hatte? Immerhin rechtfertigten die vier es, daß der Autor die Anwesenden siezte und so der Veranstaltung einen offiziellen Ton verlieh. »Ich begrüße Sie also zu unserem abendlichen Picknick und bin sehr gespannt, ob meine Wörter und Ihre Deutungen zueinander finden.« Salbungsvolle Worte, die der Schriftsteller wider besseres Wissen von sich gab. Er haßte Lesungen und machte sie nur, weil er ohne das Honorar Prospekte hätte austragen müssen.
Daß er Lesungen haßte, hatte einen durchaus vernünftigen Grund. Die Schrift und der Druck waren einst erfunden worden, um die physische Präsenz des Urhebers zu erübrigen. Seither sind Lesungen überflüssig. Mehr noch, Lesungen sind schädlich. Durch Lesungen werden Bücher verhindert. Überspitzt könnte man sagen: Ob Bücher verbrannt oder Lesungen abgehalten werden – es läuft auf dasselbe hinaus. Umgerechnet auf eine produktive Lebensspanne von ungefähr fünfzig Jahren, so schreibt der stets streng kalkulierende Kehlmann, kostet das Lesungsunwesen einen deutschen Literaten etwa drei Romane à 300 Seiten. Drei Bücher, die ungeschrieben bleiben, weil der Autor statt am Schreibtisch zu sitzen zwischen Flensburg, Garmisch und Zittau umhergondelt, um sich vor Leuten, die des Lesens mehr als mächtig sind, zum Märchenonkel zu machen und ihnen aus seinen Druckwerken vorzulesen.
Eines allerdings müssen wir Leseratten, die wir stets am Rande der Überforderung leben, den Autorenlesungen zugute halten: Angesichts der jährlichen Überschwemmung mit Neuerscheinungen sind wir froh über jedes Buch, das nicht geschrieben wird.