Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 1. September 2008, Heft 18

Der olympische Geist als mediales Gespenst

von Peter Richter

Eigentlich sollten Olympische Spiele zu Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland stattfinden – in Berlin 2000 oder in Leipzig 2012. Das ist inzwischen ziemlich in Vergessenheit geraten – zu Recht und zum Glück. Denn sonst hätten wir in den weltweiten Medien möglicherweise Schreckliches über uns lesen können. Zum Beispiel: »Das Land der Kindesmörder. Immer wieder lassen grausame Deutsche ihre Kinder verhungern und verdursten«. Oder: »Die Plage der Kinderschänder. Deutsche Justiz übt Nachsicht gegenüber sexuellen Unholden«. Aber auch: »Kohlendioxid vergiftet deutsche Städte. Autoindustrie verhindert aus Gewinnstreben Gesundheitsschutz«. Schließlich: »Totale Überwachung mit deutscher Gründlichkeit. Sicherheitsdienste dringen heimlich in Computer unbescholtener Bürger ein«. Manches klingt vielleicht ein wenig übertrieben, aber hat es nicht sämtlich einen wahren Kern? Und ist der Rest nicht Meinungsfreiheit, die sich doch keiner nehmen lassen soll?
So jedenfalls wird gegenwärtig gegenüber China argumentiert, das nun die Spiele tatsächlich ausrichtete. Und damit auch eine derartige Berichterstattung ertragen muß, bei der manches ein wenig übertrieben klingt, aber doch wohl einen wahren Kern hat. Und daraus werden dann dieser Tage solche Schlagzeilen – alle aus den Programmen unserer Fernsehsender entnommen: »Chinas gestohlene Kinder. Rund 70000 Kinder werden in China jährlich verkauft«. Oder: »Drill, Kader und Gesang. Chinas Kinder« Oder: »Das chinesische Mädchen und die Männer. Junge Mädchen werden entführt und an solvente Singles verkauft«. Oder: »Chinas Autowahn. Für die automobile Revolution zahlen die Chinesen einen hohen Preis«. Oder: »Chinas Kämpfer für die Wahrheit. Auch im Reich der Mitte gibt es Journalisten, die über Korruption, Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen berichten«.
Die gedruckten Medien schlagen den gleichen Ton an; ähnlich tendenziöse Überschriften lassen sich derzeit zuhauf finden. Es gibt natürlich auch anderes, doch das bleibt deutlich in der Minderheit. In unseren Medien wird der olympische Geist, um dessen Aufleben sich die Chinesen durchaus aufopferungsvoll bemühten, zum häßlichen Gespenst, und ihr Land zu einer Gruselzone, deren Zustände dem rechtschaffenen Bürger Schauder über den Rücken laufen lassen sollen.
Hätten die Weltmedien wie eingangs beschrieben über ein denkbares Olympialand Deutschland berichtet, wäre es hier zu Recht zu einem Sturm der Empörung gekommen, obwohl es die genannten Erscheinungen natürlich durchaus gibt. Wie auch die chinesische Wirklichkeit nicht nur von Harmonie und Sonnenschein geprägt ist, so gern das die Verantwortlichen auch behaupten – was sie kaum von Amtspersonen hierzulande unterscheiden dürfte. Doch das chinesische Unverständnis, Proteste gar sind a priori Beschönigung der Wirklichkeit oder auch Verletzung der Meinungsfreiheit, wenn nicht gleich die Fratze eines totalitären Staates.
Dabei ist es selbstverständlich lächerlich, wie empfindlich das offizielle China auf manche westliche Arroganz reagiert, wodurch diese beinahe noch geadelt wird. Es ist die dem einstigen DDR-Bürger durchaus geläufige Denkweise, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, die da noch immer grassiert. Wenn ein sich kommunistisch nennendes Land, das seinen wirtschaftlichen Aufstieg vor allem kapitalistischen Methoden, darunter solchen der vulgärsten Art, verdankt, die Olympischen Spiele ausrichtet, dann hat das immer und durchgängig eine totale Erfolgsgeschichte zu sein; jeder weggeworfene Pappbecher trübt das erstrebte Bild absoluter Harmonie zwischen Staat, Bevölkerung und internationalem Publikum, und einige Plakate oder Passantenäußerungen gegen die Regierungspolitik werden zum Super-GAU.
All dieses wäre ohne Zweifel hochinteressanter Stoff für psychologische Seminare zur Herrschaftsausübung; es eignet sich aber zugleich für die politische Brunnenvergiftung – indem man zum Beispiel den Nichtempfang einer Internetseite der tibetischen Exilregierung zu einer Art Kriegserklärung an jegliche Olympiaberichterstattung hochstilisiert. Hier begibt sich der Kritiker flugs ins Fahrwasser der Kritisierten, indem er ähnlich überzogen reagiert.
Den Vogel dabei hat wohl der Vorsitzende des Sportausschusses des Bundestages, Peter Danckert (SPD), abgeschossen, der verlangte, China – und natürlich Milliarden Sportanhänger auf der ganzen Welt – dadurch zu bestrafen, daß die Eröffnungsfeier nicht im Fernsehen übertragen wird; er verlangte also die Bekämpfung einer »kleinen« chinesischen Zensur durch eine totale, weltweite Zensur. Ihn selbst freilich hindert das »unerträgliche« Verhalten der Chinesen nicht daran, an der Spitze einer Bundestagsdelegation nach Peking zu reisen.
Die Unglaubwürdigkeit und gleichzeitige Heftigkeit der gegenwärtigen Angriffe gegen China legen die Vermutung nahe, daß es weniger um das geht, was da plakativ an der Oberfläche verhandelt wird, sondern um dahinter-, tieferliegendes, das man jedoch sorgsam verbergen möchte. Dies aber ist wohl die alte Urangst, die seit je das Verhältnis des »Abendlandes« zum fernöstlichen Riesenreich bestimmt. Jahrzehntelang von den westlichen Mächten beherrscht und unterdrückt, zu denen auch Rußland gehörte (mit dem es prompt auch zuerst zu Konflikten kam), befindet sich China heute in einem rasanten Aufschwung. »Schon jetzt ist China die viertgrößte Wirtschaftsmacht, sein politischer Einfluß steigt stetig, es besitzt die größten Devisenreserven der Welt. Spätestens im Jahr 2040 dürfte China zur Nummer eins der Weltwirtschaft aufsteigen und an den Vereinigten Staaten vorbeiziehen, wahrscheinlich früher. In der Rangliste der Exportnationen liegt das Land auf Platz zwei. Bald wird es Deutschland als Exportweltmeister überholen, im Sport ist es den Deutschen schon uneinholbar enteilt«, faßte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Gefahr zusammen, die sie der westlichen Dominanz drohen sieht.