Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 4. August 2008, Heft 16

Moral statt Politik

von Jochen Mattern

Von dem neuen Mann an der Spitze des Freistaates Sachsen versprechen sich die Unionsstrategen ein Wahlergebnis, das ihnen die alleinige Regierung bescheren möge wie einst unter Kurt Biedenkopf. Was den Neuen in den Augen der Unionsmitglieder vorteilhaft von seinem Vorgänger unterscheidet, ist seine ausgesprochen wertkonservative Einstellung. Ihren Ausdruck findet sie unter anderem in der Betonung der Herkunft des Ministerpräsidenten. Mit Stanislaw Tillich, einem Sorben und bekennenden Katholiken, regiert nun auch das letzte ostdeutsche Bundesland ein Einheimischer. Die Betonung der Abstammung des neuen Ministerpräsidenten dient einem symbolischen Zweck: Sie soll der Bevölkerung Zugehörigkeit und Heimatverbundenheit signalisieren. Einer von hier, heißt es, verstehe die Sorgen und Nöte der Sachsen besser als ein Auswärtiger. Tillich propagiert gefühlsbeladene und wertbindende Ideen, die rationaler Kritik weitgehend entzogen sind.
Die Reaktivierung der wertkonservativen Trias aus Heimat, Familie und Glauben gehört ausdrücklich zu seinen politischen Vorhaben. Das demonstriert auch die eilends arrangierte Audienz beim Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Benedikt XVI. Ein symbolträchtiger Besuch, der die wertkonservative Ausrichtung der sächsischen Union vor Augen führt. Auf welchem Menschenbild das Zusammenspiel zwischen techno-kratischer Politik und Wertkonservatismus beruht, verdeutlichte ein Interview mit der Sächsischen Zeitung vom 31. Mai 2008, Überschrift: Der Glaube ist mein Anker. In dem Interview teilte Tillich die Menschen in solche ein, die sich Mühe gäben, und in solche, die das nicht täten. An Schlichtheit ist ein solches Menschenbild kaum zu überbieten. Dennoch dient es als Grundlage für den neoliberalen Ruf nach Freiheit für Leistung und Stärke. Den Mühseligen, »denen, die Leistung bringen wollen«, fordert Tillich, müsse der entsprechende Spielraum gelassen werden, um »ihre Freiheit zum eigenen Erfolg zu nutzen«. Dem privaten Nutzen gebührt also der Vorrang vor dem Gemeinwohl, das aus der Summe der Einzelinteressen besteht. Die »Markt-Individuen« konzentrieren sich, wie es Hannah Arendt einmal ausdrückte, ganz »auf die Notwendigkeiten des privat-persönlichen Erfolgs«.
Die Pflichten und Verantwortlichkeiten des Bürgers, so nochmals Hannah Arendt, fielen ihnen eher zur Last, weswegen sie sich ihrer möglichst zu entledigen trachteten. Das meritokratische Prinzip, also die Freiheit für Leistung und Stärke, gehorche einem unpolitischen Freiheitsverständnis. Es beruhe auf dem Bild einer Wettbewerbsgesellschaft, in der alle möglichst ungehemmt miteinander konkurrieren und sich die (Leistungs-) Stärkeren am Ende durchsetzen. Ihr Durchsetzungsvermögen gelte als Beweis der Überlegenheit über die anderen. Sie rechtfertigten damit ihren Status als Elite und ihren gesellschaftlichen Führungsanspruch. Die Vorstellung eines fairen Leistungswettbewerbs kollidiere mit der Realität sozialer Reproduktion. Sie entlarve das Verdienstethos als fern der gesellschaftlichen Wirklichkeit, als pure Leistungsideologie.
Die bundesrepublikanische Gesellschaft weist Züge einer Ständegesellschaft auf, die soziale Herkunft zum Schicksal erklärt. Von sozialer Aufwärtsmobilität zwischen den sozialen Schichten, dem Aufstieg kraft eigener Leistung, kann kaum die Rede sein. Im Gegenteil: Soziales und kulturelles Kapital werden vererbt. Das bedeutet, daß unter den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen diejenigen, die in Armut aufwachsen, geringe Aussicht haben, die Armut zu überwinden. Und die Reichen bilden einen exklusiven Klub, der sich von der Gesellschaft abzuschotten trachtet. Wenn jedoch nicht Leistung, sondern Herkunft über den sozialen Status entscheidet, haben wir es mit einer sozialen Refeudalisierung der Gesellschaft zu tun.
Eine solche Gesellschaft praktiziert eine moderne Spielart der Gerech-tigkeit von oben. Sie versteht unter Gerechtigkeit den Vorteil des Stärkeren. Anders als in der älteren Variante nimmt nicht der Staat, sondern der Markt die Verteilung der Güter vor, und zwar aufgrund angeblicher Leistungskriterien. Ungleichheiten, die dabei entstehen, werden als unvermeidlich und als gerechtfertigt betrachtet. »Gerechte Ungleichheiten« seien das Resultat des unterschiedlichen Leistungsvermögens der Individuen. Sie entfalteten gar eine produktive Wirkung, insofern sie die betroffenen Menschen zu größeren Anstrengungen anspornen, ihre Lebenslage zu verbessern. Auf diese Weise könne der Staat Sozialausgaben sparen.
Fragen der Verteilung des Bruttosozialprodukts und der strukturellen Benachteiligung von Menschen erübrigen sich aus dieser meritokratischen Perspektive. Politik gerät auf diese Weise zur Gewährung von Almosen für diejenigen, die angeblich weder stark noch willens genug sind, im Leistungskampf bestehen zu können. Dafür, daß sie unterliegen und auf Wohltaten anderer angewiesen sind, könne ihnen ein entsprechendes Wohlverhalten abverlangt werden.
Es ist also nur konsequent, wenn dem neuen Ministerpräsidenten »die steigende Neigung zur Umverteilung Sorge« bereitet. Daß die Mehrheit der Bevölkerung das anders sieht, scheint ihn nicht zu kümmern. Denn laut Umfragen empfindet ein wachsender Teil der Bevölkerung die Verteilung von Vermögen und Einkommen als ungerecht und betrachtet selbst die »soziale Marktwirtschaft« mit Skepsis.
Hier kommen die wertkonservativen Auffassungen zum Zuge. Ihre Funktion besteht darin, über die soziale Polarisierung der Gesellschaft hinwegzutäuschen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu suggerieren. Im Unterschied zu hartgesottenen Liberalen wissen Konservative, daß sich eine Gesellschaft nicht allein über den Mark integrieren läßt. Der von den vermeintlichen Sachzwängen des Marktes verursachten sozialen Kälte begegnen sie daher mit identitätsstiftenden Angeboten wie Heimat, Familie und Glaube. An ihnen soll sich das kalt-technokratische Wirtschaftsdenken erwärmen können. Nicht mit einer Politik sozialer Gerechtigkeit antwortet die CDU auf die soziale Spaltung in der Gesellschaft, sie appelliert statt dessen an die Moral und das Gemeinschaftsgefühl der Bürgerinnen und Bürger. Diese mögen doch als Arbeitskraftunternehmer über dem notwendigen individuellen Nutzenkalkül ihre Verantwortung für das Gemeinwesen nicht vergessen.