Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 4. August 2008, Heft 16

Herrenchiemsee-Festspiele

von Dieter Braeg

Am 10. August 1948 eröffnete der Leiter der bayerischen Staatskanzlei Anton Pfeiffer als geschäftsmäßiger Leiter den deutschen Verfassungskonvent, der bis zum 23. August 1948 im ehemaligen Augustiner-Chorherrenstift auf der Insel Herrenchiemsee im Zimmer Nr. 7 – dem ehemaligen Speisezimmer König Ludwig II. – tagte.
Die »westlichen« Bundesländer hatten je einen Experten delegiert, da-zu kamen etwa zwanzig Juristen, Politiker und Verwaltungsfachleute. Der Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung von Berlin, Otto Suhr nahm als Gast teil. Nach einer einführenden Plenardebatte teilte sich das Gremium in drei Unterausschüsse und arbeitete einen Entwurf des Grundgesetzes aus – den »Chiemseer Entwurf«. Dieser war Grundlage der Beschlüsse zum Grundgesetz des Parlamentarischen Rates in Bonn. Zwei »Hauptgedanken« aus diesem Entwurf seien hier zitiert:
Es gibt kein Volksbegehren. Einen Volksentscheid gibt es nur bei Änderungen des Grundgesetzes.
Eine Änderung des Grundgesetzes, durch die die freiheitliche und demokratische Grundordnung beseitigt würde, ist unzulässig.
Nun wurde gefeiert, dort, wo dies alles begann. Weil diese Tagung ein politischer Wendepunkt gewesen sei zwischen den Folgen der nationalsozialistischen Diktatur, dem Zweiten Weltkrieg und dem Wachsen der ersten dauerhaft stabilen Demokratie auf deutschem Boden. Deswegen standen die Herrenchiemsee-Festspiele 2008 unter dem Motto »Zeitwende«. Das Programm beschäftigte sich, so die Veranstalter, vor allem mit Werken, in denen Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie Widerstand gegen Rassismus, Diktatur und Krieg zum Ausdruck kämen.
Als Festredner wurde Wolfgang Schäuble gebucht. So war es nicht verwunderlich, daß auf dem Festakt nicht abgeschobener Frauen und Männer gedacht wurde, die – oft geknebelt und gefesselt – dorthin zurück-geschickt werden, wo ihr Leben so gefährlich war, daß sie flüchteten. Es wurde auch nicht protestiert, daß das Grundgesetz seit seiner Gründung durch Notstandsgesetze und Bürgerrechtsabbauparagraphen ausgehöhlt wurde und nun Bürgerin und Bürger bis in ihre Schlafzimmer hinein beobachtet werden sollen. Es referierte jener Politiker, der im Jahre 1999 mit seiner Unterschriftenaktion gegen die Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts die Ausländerfeindlichkeit schürte. Jener, der ein »gesundes Nationalgefühl« fordert und meint, »Deutschland hat als Land in der Mitte des Kontinents, das zeigt auch die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches, eine europäische Berufung«. Diese »Berufung« ließ ihn auch im Dezember 2005 fordern, Aussagen von Gefolterten bei der Ermittlungsarbeit der Sicherheitsbehörden zu verwenden.
Diese Auffassung Schäubles wurde nicht nur von den Oppositionsparteien, sondern auch vom Koalitionspartner SPD abgelehnt, und sogar der damalige CSU-Generalsekretär Markus Söder sprach sich dagegen aus. Daß er das Grundgesetz geändert sehen möchte, damit die Bundeswehr Sicherheitsaufgaben innerhalb der Landesgrenzen erledigen könne (etwa den Abschuß von Zivilflugzeugen), gehört dazu – natürlich ohne den Volks-entscheid, der auf Herrenchiemsee vorgeschlagen wurde. Schäuble hat auch zum Bundesverfassungsgericht eine Meinung – Verfassungsrichter seien nicht demokratisch legitimiert. Das Autobahnmautgesetz soll für Fahndungszwecke mißbraucht werden. Online-Durchsuchung hat der Bundesgerichtshof zwar abgelehnt, trotzdem fordert Schäuble die Strafprozeßordnung, das BKA-Gesetz, die Polizeigesetze der Länder entsprechend sowie den Artikel 13 im Grundgesetz, der die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert, zu ändern, um den sogenannten Bundestrojaner einsetzen zu können.
Bei Schäuble ist jeder Anlaß, ob G8-Gipfel oder Fußballweltmeisterschaft, eine Gefahr. Beim G8-Gipfel durch »gewaltbereite« Globalisierungs-gegnerinnen und Gegner. Und beim Fußball? Sind da die Schiedsrichter gefährdet, die nicht für Deutschland pfiffen?
Dieser Innenminister bezweifelt, daß die in der Bundesrepublik praktizierte Kontrolle der Geheimdienste sinnvoll sei. Man erweise »der Freiheit einen Bärendienst«, wenn Geheimdienste anderer Länder die Zusammenarbeit mit den deutschen Geheimdiensten wegen der parlamentarischen Kontrolle einschränkten.
Nach der Festrede wurde aufgespielt – Johannes Brahms’ Schicksalslied op. 54 für Chor und Orchester und Anton Bruckners Te Deum.
Zeitwende?