von Günter Agde
Sie werden gern mit Hohn übergossen, und auch an Witzen fehlt es nicht – die Bitterfelder Konferenzen von 1959 und 1964 und der sogenannte Bitterfelder Weg. Die damalige Partei- und Staatsführung der DDR, insbesondere Walter Ulbricht, wollte mit dieser lautstark propagierten Kampagne einen neuen Ton in die Kunst der DDR bringen, und wie es damals üblich war, wurde das ganze Land mit dieser Kampagne befaßt. In der heutigen kulturpolitischen Erinnerungslandschaft freilich wird meist nur der Irrweg beschrieben, nicht seine Risiken und Nebenwirkungen und seine Erträgnisse.
Simone Barck und Stefanie Wahl haben die Gunst eines Jubiläums genutzt, um einen ersten, materialreichen Schritt zur Abhilfe vorzuschlagen. Anläßlich des 50. Jahrestags der Eröffnung des Bitterfelder Kulturpalastes, dem attraktiven Schauplatz beider Konferenzen, haben sie eine Ausstellung zum Thema gestaltet, die leider kaum über regionale Aufmerksamkeit hinausgelangt ist. Nun reichen sie quasi als Katalog eine Bitterfelder Nachlese nach. (Simone Barck hat das Erscheinen des Bandes, der ihr sehr am Herzen lag, leider nicht mehr erlebt.)
Der Sammelband vereint sehr heterogene, nichtsdestoweniger informative und anregende Texte. Matthias Braun beschreibt, wie die SED-Parteiführung die Bitterfelder Konferenz 1959 und den anschließenden Bitterfelder Weg für sich instrumentalisierte. Er stellt die sozusagen politische Technologie dieser Instrumentalisierung dar und wandelt da auf den bekannten Wegen einer Analyse streng an Parteitexten entlang. Das ist so richtig wie es einseitig und nur ein Teil der Sache ist. Simone Barck analysiert – kenntnis- und detailreich, wie man es von ihr kannte – die Bewegung »Schreibender Arbeiter«, die ja durch »Bitterfeld« erhebliche Antriebe erhielt. Stefanie Wahl befragt ehemalige Mitwirkende der zahlreichen Volkskunst-Zirkel, die es in Bitterfeld und – von dort animiert – im ganzen Lande gab. Aller Fazit: Es hat uns Spaß gemacht, wir haben viel gelernt und einen nachwirkenden Zugang zur Kunst gewonnen.
Weitere Aufsätze sind dem initiativen Mitteldeutschen Verlag Halle, dem Maler Walter Dötsch, den Schriftstellern Brigitte Reimann, Franz Fühmann und Werner Bräunig gewidmet. Einen bedenkenswerten Exkurs bilden Überlegungen von Volker Zaib und Petra Kühne über zeitgleiche bundesdeutsche Pendants zum Bitterfelder Weg, Stichwort Literatur der Arbeitswelt. Schmeckerchen bilden unveröffentlichte Briefe Franz Fühmanns und Werner Bräunigs. Beide stellten sich offensiv dem Umgang mit der »neuen Realität«, zweifelten bald, quälten sich – nicht nur literarisch – und scheiterten letztlich.
Alle Texte des Bandes verlocken, weiter zu recherchieren und zu forschen. Denn sie können vieles nur anreißen, was unbedingt weiter erkundet werden müßte, um den Bitterfelder Weg genauer und sachgerecht beschreiben zu können. Etwa die Mamais – die Renommier-Schmelzer-Brigade aus dem Bitterfelder Chemiekombinat, ihr Schicksal »hinter« dem Renommee und ihr Ende und die merkwürdigen Reflexe, die sie etwa in Malerei und Graphik der DDR hinterließ. Etwa die Anfänge der Lyrik-Bewegung, die ohne »Bitterfeld« und ohne den Verbund mit der munteren Zeitschrift Forum – Zeitung für geistige Probleme der Jugend nicht denkbar ist und die die literarischen Startlöcher der beiden Kirschs, Sarah und Rainer, Volker Brauns, Axel Schulzes und anderer bildete.
Vor allem müßte jenes erheblich subversive und zugleich anregende künstlerische Potential eruiert werden, das im Windschatten der Bitterfelder Konferenz entstand und sich in den folgenden Jahren rasch ausbreitete. Ohne die Bitterfelder Konferenz wäre Christa Wolf nie ins Waggonwerk Ammendorf gegangen, und es gäbe weder ihren Roman noch Konrad Wolfs Film Der geteilte Himmel. Sie ist gewissermaßen nur die Leitperson für viele andere Künstler, die durch »Bitterfeld« wirkliches Leben in ihre Kunst holten – bis es den DDR-Oberen »zuviel« wurde und sie mit dem 11. Plenum 1965 ihren schlimmen Riegel vorschoben.
Die Amateurfilmbewegung der DDR hat in und durch Bitterfeld ihren maßgeblichen Impuls erhalten. Die zahlreichen Filme, die sie hinterließ, sind aufschlußreiche Dokumente ihrer Zeit, und man könnte sie als Propaganda-Schmarren abtun. Dreht man jedoch die agitatorisch aufgeladenen Kommentare zurück und läßt sich vor allem auf die Filmbilder ein, so wird man noch heute bemerkenswerte Arbeiterbilder und aufrichtige Blicke in seinerzeitige Arbeitswelten finden, die zur Geschichte und Kulturgeschichte der DDR gehören. Viele Industriebetriebe unterhielten eigene Filmstudios und finanzierten sie großzügig: Auch Amateurfilm kostete viel Geld. Die Amateurfilmbewegung wuchs infolge »Bitterfeld« derart an, daß sich sogar das DDR-Fernsehen entschloß, eine eigene Fernsehreihe »Greif zur Kamera« mehrjährig zu etablieren. Moderiert von dem bedeutenden DEFA-Kameramann Werner Bergmann wurden hier Amateurfilme gezeigt und anschließend mit den Machern diskutiert: offenherzig, fair und voller Anregungen und praktikabler Tips für die Amateur-Kollegen im Lande. Bedeutung und Wirkung dieser medialen Multiplikation durch das Fernsehen waren enorm und müssen noch erst gründlich untersucht werden. Da die Sendereihe im Vorabendprogramm des DDR-Fernsehens lief und als Ratgebersendung – was sie auch, aber eben nur auch und nicht ausschließlich war – abgetan wurde, wird sie übersehen. Die Amateurfilmbewegung und die Sendereihe kommen in dem Nachlese-Band gar nicht vor, und insofern ist die Nachlese eben doch eine Auslese.
Simone Barck, Stefanie Wahl (Hrsg.): Bitterfelder Nachlese, Ein Kulturpalast, seine Konferenzen und Wirkungen, Karl Dietz Verlag Berlin, 288 Seiten, 73 Abbildungen, 14,90 Euro
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