Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 7. Juli 2008, Heft 14

Versuche zu verstehen: Ryszard Kapuscinski

von Gerd Kaiser

Dies ist der letzte Versuch Ryszard Kapuscinskis, Polen und die Welt verstehen zu helfen. Das definitiv letzte Buch Kapuscinskis erschien ein halbes Jahr nach seinem Tod. Lapidarium VI wurde zu seinem Grabstein und war ebenso schnell vergriffen wie seine zahlreichen früheren Bücher. Die Unternehmungen der Karrieristen unterschiedlichster polnischer Prägungen – im Zeichen von PIS (das ist das jüngst gerupfte »Enterich«-Geschwader der Kaczynski-Gebrüder) und von PIN (das sind die Resteverwerter der Hinterlassenschaft polnischer Mielke- und Birthler-Bruderschaften im Zeichen hochgestochener wie -bezahlter nationaler Geschichtsbildmaler) –, dem Dahingeschiedenen noch aufs Grab zu spucken, waren ebenso würde- wie erfolglos. Ryszard Kapuscinskis Gedanken gehen auch nach seinem Tod um, wie eh und je:
»Denken ist ein schwielig Ding.« »Neu ist es in der Welt, daß kleine, sektiererische Religionen aus ihrem Ghettodasein zu Netzwerken werden; daß neue Diktaturen heutzutage in Mischformen auftreten und sowohl Elemente von Demokratie als auch von Liberalismus in sich tragen.« »In jedem Jahrhundert und in jedem Volk gab es Köpfe, Leute mit Köpfchen und Hohlköpfe. In jedem Jahrhundert beklagten sich die Leute über fehlende Gesundheit, unzureichenden Besitz oder fehlende Anerkennung ihrer Leistungen. Niemals jedoch hörte man, daß sich jemand beschwerte, daß er dumm sei …«
»Die Führer der weltbeherrschenden Demokratien erweisen sich als miese Lügenbolde. Beim Lügen erwischt, versuchen sie nicht, sich zu erklären oder sich zu rechtfertigen, sondern, wie es kleine Kinder tun, ihre Lügnereien auszuschmücken. … Es ist ein Problem, daß zusammen mit den Religionen auch jene Werte untergehen, deren Bewahrer und Verkünder sie waren. Nicht nur, daß die Dome, Kirchen, Sanktuarien und Kultstätten von immer weniger Menschen aufgesucht werden, sondern damit schwindet auch, was in Menschen an Höherem war und wenigstens potentiell über den einzelnen hätte hinausragen können.«
»Einer der wesentlichen Charakterzüge der Gegenwart besteht darin, daß die Situation des Klassenkampfes, in der die physische Nähe der Gegner zu spüren ist, von der Marginalisierung der Schwachen abgelöst wird, deren Ausgrenzung, Abkopplung, Verdrängung ins Nichts. Die Eliten haben sich von den Massen gelöst, ignorieren die Masse, deren Vorhandensein sie nicht wahrnehmen; diese ihrerseits ist nicht fähig, sich zu organisieren und ihre Interessen und Aufgaben zu artikulieren. Frustriert und erniedrigt strebt sie einem passiven und armseligen Leben zu.«
»1989 und die nachfolgenden Jahre – ein Sieg der Demokratie? Nichts dergleichen – das war ein Sieg des Konsums.«
»Der Kitsch liefert jedwedes ideologische Übel für den Alltagsgebrauch: Totalitarismus, Fanatismus, Fundamentalismus.«
»Es ist schwierig über eine Welt zu sprechen, aus der Begriffe wie Wahrheit, Ehre, Güte, Scham, Mitgefühl und so weiter verschwunden sind.«
»Das XXI. Jahrhundert wird das Jahrhundert des Emigranten, des Ausländers, des Einwanderers. Dieser Umstand verstärkt noch die ohnehin vorhandene Atmosphäre der Vorläufigkeit, der Zufälligkeit.«
»Die Geschichte ist der Friedhof von Ideen.« »In Wahlkampfzeiten nehmen immer und allüberall die Dummheit und die Lüge zu.« »Banalitäten? Jetzt, da das XXI. Jahrhundert seinen Lauf nimmt, sind wir zu Banalitäten verurteilt, ein Leben ohne Banalitäten, ein Ausweg, ist unvorstellbar.«

Ryszard Kapuscinski: Lapidarium VI, Czytelnik Warszawa 2007, 169 Seiten, ISBN: 978-83-07-03112-5, 26,60 Zloty