Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 9. Juni 2008, Heft 12

Plädoyer für den Notstand

von Vitense Parber

Nichts ist stärker als die Kraft des Allmählichen.
Gerd Kurze

Die Geschichte des Nationalsozialismus sei im Westen Deutschlands nach 1945 schnell verdrängt worden, und erst die rebellierenden Studenten aus den Jahren 1967/68 hätten die Aufbaugeneration der Bundesrepublik mit dem Unrechtsregime konfrontiert. So lautet die Lieblingsthese vieler 68er Protagonisten, deren »realpolitische Fraktion« zwischen 1998 und 2005 mit der rot-grünen Koalition die Gesellschaft und den Rechtsstaat so sehr demolierten, daß sich diese Verantwortungsträger ihrerseits heute ebenfalls nicht mit ihren Taten konfrontiert sehen mögen. Eine Operation, die übrigens sehr gut gelingt; Schröder, Fischer und ihre Mitmarschierer durch die Institutionen verweigern einfach das Gespräch über das, was sie in ihrem fünften und sechsten Lebensjahrzehnt verbrachen – so wie ihre Eltern einst über ihr Mittun in ihrem zweiten und dritten Lebensjahrzehnt verbissen schwiegen. Letzten Endes sind also die Eltern Sieger geblieben.
Doch nicht alles war nach 1945 so wie heute: Auch wenn sie ihre Verbrechen und selbst ihr einstiges Wegschauen leugneten und verdrängten, stimmten die Mittäter und Mitläufer der Nazis ab 1946 für Parteien, die die Freiheits- und Bürgerrechte scheinbar unzerstörbar ins Zentrum der provisorischen Verfassung, des sogenannten Grundgesetzes, stellten. Damit duldeten sie in Deutschland erstmals eine Rechtsstaatlichkeit, die diesen Namen wenigstens partiell verdiente. Kommunisten, die seit den fünfziger Jahren politischen Verfolgungen ausgesetzt waren, erfuhren freilich die engen Grenzen dieser Rechtsstaatlichkeit mit großer Härte; gegen sie galt der Notstand. Auch ohne Notstandsgesetze; denn die gibt es erst seit vierzig Jahren. Daß diese Grundgesetzänderung für all das, was sich mit dem Jahr 1968 verband, eine ganz wesentliche Rolle spielten, bleibt in den vielen heutigen Reflexionen jedoch seltsam blaß.
Gegen die mit den Notstandsgesetzen verbundene Einschränkung der Grundrechte regten sich 1968 nicht nur rebellische Studenten, sondern auch die Gewerkschaften. Am 11. Mai, kurz vor der zweiten und dritten Lesung der Gesetze im Bundestag, veranstalteten das Kuratorium Notstand der Demokratie und die Kampagne für Demokratie und Abrüstung nach Bonn einen Sternmarsch. Der DGB lud am gleichen Tag nach Dortmund zu einer Großkundgebung. Und in Frankfurt am Main, München, Göttingen, Hamburg, Westberlin und Freiburg kam es ebenfalls zu Protestdemonstrationen. Denn es schien nun nicht mehr nur um die Einschränkung der Bürgerrechte für Kommunisten zu gehen.
Als Vorwand für die Notstandsgesetze diente seit den fünfziger Jahren die Bedingung der West-Alliierten, die vollständige Souveränität an die Bundesrepublik erst dann zu übergeben, wenn ihre in Deutschland stationierten Truppen im Krisenfall durch den westdeutschen Staat geschützt seien. Drei Tage vor der Abstimmung im Bundestag machten die Westmächte noch einmal richtig Druck – mit der Ankündigung, nach einer Verabschiedung der Notstandsgesetze auf ihre Vorbehaltsrechte zu verzichten. Davon war allerdings keine Rede mehr, nachdem – bis auf die FDP-Fraktion und 53 SPD-Abgeordnete – am 30. Mai 1968 alle Abgeordneten diesem Gesetzeswerk zugestimmt hatten. Erst der Zwei-plus-Vier-Vertrag beendete die alliierten Rechte (inklusive die der Sowjetunion).
Für den Verteidigungsfall, den Spannungsfall, den inneren Notstand – also bei Aufständen – und für den Katastrophenfall regelten die Notstandsgesetze eine Reihe von Einschränkungen der Grundrechte. Über das Briefgeheimnis sowie über das Post- und Fernmeldegeheimnis heißt es in Artikel 10: »Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.« Deswegen sind vor vierzig Jahren allen Ernstes Zehntausende auf die Straße gegangen? Seit 1998 haben Otto Schily und Nachfolger diesen Notstandsgrundsatz in die alltägliche Rechtswirklichkeit überführt – ganz allmählich; auf den Straßen war niemand zu sehen.
Auch der Artikel 12 erregte seinerzeit Mißmut: »Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.« So liberal ging es einmal in der Bundesrepublik zu. Heute kann jeder »Betreuer« in einem Jobcenter Zwangsarbeit anordnen. Wer dreimal hintereinander Zwangsarbeit ablehnt, erhält seit 2006 gar nichts mehr, weder 345 Euro noch Miete noch Heizungsgeld, behält aber trotzdem die freie Wahl eines freien Bürgers: die zwischen Hunger- oder Kältetod.
Auch im Artikel 12 a findet sich eine rührend zurückhaltende Regelung: »Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte anfordern..« Wolfgang Schäuble ist da ein ganz anderer Kerl. Er will das alles auch ohne Ausrufung des Notstandes dürfen, und zwar auch bei Unruhen. Die in Bayern künftig erst gar nicht mehr ausbrechen können, hat doch die Landesregierung gerade ein Gesetz zur Einschränkung der Versammlungsfreiheit beschlossen, das noch vor der Bayernwahl durch den Landtag gepeitscht werden soll. Gerüchte, der Berliner Senat wolle diese Regelung übernehmen, sind bislang unbestätigt.
Last not least ist über die Notstandgesetze auch ein Widerstandsrecht ins Grundgesetz geraten: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Vierzig Jahre nach dem 30. Mai 1968 bleibt jedem, dem Freiheit und Rechtsstaatlichkeit noch etwas wert sind, eigentlich nur eines: die sofortige Ausrufung des Notstandes zu fordern. So frei und rechtsstaatlich werden wir vielleicht nie wieder leben.