Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 12. Mai 2008, Heft 10

Fräulein Erna

von Angelika Leitzke

Fräulein Erna, 1880 geboren, wuchs bei einer armen Weißnäherin in Berlin auf. Die leiblichen Eltern waren vermutlich jüdische Einwanderer aus Polen, denen es in der boomenden Reichshauptstadt nicht gelungen war, sich mit dem Handel von Holz oder Baumwolle oder dem Verkauf alter Schinken, also historischer Gemälde, ein hinreichendes Auskommen zu verschaffen. Als Fräulein Erna zwanzig Jahre alt war, riß sie, stiefmütterlich behandelt, von zu Hause aus, um ihren künstlerischen Neigungen ungestört frönen zu können, die sich schon im Wickelkissen bei ihr gezeigt hatten. Da ihre halbjüdische Nase aber nicht dem hiesigen Akademiedirektor, Professor von W., gefiel und sie kein Geld für eine totale Geschlechtsumwandlung besaß, konnte sie kein ordentliches Kunststudium aufnehmen. So setzte sie ihre zeichnerischen Versuche auf der Straße fort, wo sie, als Mann verkleidet, vorbeieilende Passanten gegen einen Hungerlohn porträtierte. Als sie bei dieser Gelegenheit vom Herrn Kaiser persönlich erwischt wurde, bezeichnete dieser ihre Malereien als Rinnsteinkunst und verdonnerte sie, da sie keinen Gewerbeschein besaß, zu zwei Jahren Haft.
In dieser Zeit vermehrte sich das erstaunliche Frühwerk der jungen Künstlerin um -zig tausend Blatt mit Porträts von Mithäftlingen und Gefängnisaufsehern, die auch von dokumentarischem Wert hätten sein können, wären sie nicht beim Brand der Anstalt anno 1904 totaliter vernichtet worden. Fräulein Erna gelang hierbei die Flucht, und sie verdingte sich zunächst als Tänzerin in einem drittklassigen Varieté in Nähe des Landwehrkanals.
Hier traf sie bei einem ihrer Heimgänge zu später Stunde einen jungen Mann, der das schwüle Großstadtleben bei Nacht mit wilden Strichen in einem kleinen Skizzenbuch festhielt. Die beiden fanden sofort Gefallen aneinander, und der junge Mann, ein gewisser Herr Ernst Ludwig K., beschloß, das arme Mädel mit den feingeistigen Zügen fortan unter seine Fittiche zu nehmen, da ihn ihr geschmeidiger Körper nicht nur sinnlich ansprach, sondern auch als Modell für seine künftigen Aktbilder geeignet schien. So zog das junge Paar in eine kümmerliche Bude, in der Ernst Ludwig zeichnete und malte, während Fräulein Erna ihm die Hemden flickte. Ihre eigene Kunst hatte sie an den Nagel gehängt, da Ernst Ludwig ihr untersagt hatte, auch nur einen Strich zu machen, solange sie mit ihm beisammen wäre. Da er aber ein großzügiger Mensch war, erlaubte er ihr, seine Werke in seinem Namen zu signieren, wenn er zu faul dazu war, und ließ dieses Privileg sogar urkundlich bestätigen.
Der Krieg kam, und Ernst Ludwig meldete sich freiwillig zum Kampf in der Annahme, daß er auf diese Weise gratis ins Ausland käme, wo er Studien nach Land und Leuten machen könnte. Zu seinem großen Verdruß wurde er aber in ein ödes deutsches Provinzkaff verdonnert, wo er, da ihm der Berliner Amüsierbetrieb fehlte, alsbald einen Nervenzusammenbruch erlitt. Währenddessen besorgte Fräulein Erna in Berlin die Wohnung und nahm die Post für Ernst Ludwig entgegen. Da sie wieder mehr Zeit für sich hatte, beschloß sie, ohne es den armen Ludwig wissen zu lassen, wieder künstlerisch aktiv zu werden, und zeichnete mit gewandter Hand das Berliner Leben währen des Krieges auf. Diese Blätter verbarg sie unter dem Dielenboden in der Küche, da sie nicht wollte, daß Ernst Ludwig sie zu Gesicht bekäme, wenn er wieder heimkehre. Dem war es gelungen, weitere Nervenzusammenbrüche zu simulieren, so daß er – dank der gütigen Finanzspritze einflußreicher Förderer – in ein nobles Sanatorium zwecks Rekonvaleszenz kam. Dort erholte er sich zwar von den Strapazen des Militärs, griff aber, um sich in Stimmung zu bringen, nebst Alkohol zu verschiedenen Opiaten, deren Genuß ihn schließlich in völlige Abhängigkeit derselbigen brachte. Als Fräulein Erna davon erfuhr, versuchte sie, preisgünstigere Drogen aus Italien einzuschmuggeln, was ihr aber nicht gelang, weil die Italiener selbst ihren eigenen Bedarf kaum decken konnten. Doch immerhin gaben diese Aufputschmittel Ludwig einen wahren Kreativitätsschub, so daß seine Mentoren sich dazu entschlossen, den genialen Burschen in die neutrale Schweiz zu schicken, damit seine Kunst dort ungestört weiter gedeihen konnte.
Fräulein Erna war darüber zunächst gar nicht so unglücklich, da eine erneute örtliche Trennung von ihrem Geliebten sie weiter unbehelligt malen lassen würde. Schließlich aber wurde sie von der Sehnsucht nach Ernst Ludwig besiegt, sie beschloß, ebenfalls in das Käseland überzusiedeln, zumal sie sich von der Luftveränderung Erholung für ihre berlingeschädigten Lungen erhoffte. Ernst Ludwig war einverstanden, auch weil er in dem kleinen sauberen Land keine preisgünstige Putzhilfe fand. Fräulein Erna zog mit ihm in eine Bauernklitsche nahe der Stadt D., wo sie lernte, im Stil von Ernst Ludwig zu malen, nachdem dieser immer mehr, statt Fräulein Ernas körperlichen Reizen dem Alkohol verfiel, aber den bildnerischen Nachschub für seine Fans gesichert sehen wollte. Schließlich fiel er bei der neuen deutschen Regierung in Ungnade, da sie ihn für geistesgestört erklärte. Da er nun nur noch bei der Schweizer Landesbank ausstellen durfte, stürzte er in tiefste Depression, aus der ihn auch nicht mehr Fräulein Ernas liebes Gemüt zu retten vermochte. Schließlich gab er sich adhoc die Kugel, ohne daß sie es verhindern konnte.
Nach seinem Ableben gelang es Fräulein Erna, ihre eigenen Werke aus Berlin zu retten, die aus unerklärlichen Gründen im Versteck unter dem Dielenboden unversehrt überlebt hatten. Mit ihnen nahm sie an diversen Ausstellungen teil, wodurch sie alsbald als kongeniale Malerin der Großstadt bekannt wurde. Nebenbei vollendete sie rasch noch einige von Ernst Ludwigs liegengebliebenen Bildern und versah sie, wie es ihr zustand, mit seiner Signatur. Da sie die neuen alten K.s gewinnbringend verkaufen konnte, war ihre Altersrente bald gesichert.
Als sie hochbetagt starb, geriet sie in der Kunstwelt zunächst in Vergessenheit. Erst die Frauenbewegung der siebziger Jahre entdeckte sie neu als Ur-Emanze, die jahrelang in wilder Ehe gelebt hatte, und würdigte sie postum mit diversen Ausstellungen. Als besonders publikumswirksam erwies sich dabei auch die halbjüdische Abstammung der Künstlerin. Schließlich wurde in der Schweiz die Gemeinnützige Stiftung Erna eingerichtet, die nicht nur Fräulein Ernas Werke hortet, sondern auch Kunst von sozial unterdrückten Frauen sponsort.