Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 12. Mai 2008, Heft 10

Aufstand, Alltag, Allgemeingut

von Gerd Kaiser

Seit dieses Gedicht von Czeslaw Milosz 1943 geschrieben wurde, vier Jahrhunderte nach dem geistigen Aufstand Giordano Brunos und im Jahr des Aufstands von Juden im Warschauer Ghetto, tobt eine teils verdeckt, teils offen geführte Auseinandersetzung.. Dabei geht es um polnische Nationalgeschichte und um Deutungshoheit, um unabhängiges Denken und um das Recht auf menschliche Selbstbehauptung.
Schlichtere Gemüter leugnen einfach die Existenz des Rummelplatzes zu einer Zeit, da jüdisches Pesach und katholische Karwoche, Alltag und Aufstand, sich zeitlich kreuzten – das Karussell sei des Dichters Erfindung, es habe niemals und schon gar nicht zu jener Zeit und überhaupt nicht an diesem Ort gestanden.
Vor allem aber geht jenen des Dichters Vision gegen den Strich, daß sich Menschen immer wieder gegen klerikale Dogmen, gegen menschen- und menschheitsfeindliche Zustände auflehnen. Czeslaw Milosz aber, der zu jener Zeit in Warschau lebte und am Widerstand teilgenommen hatte, hat das Karussell gesehen. Haben es auch andere gesehen?
Leszek Kolakowski, Jahrgang 1927, lebte in Warschau, sein Vater wurde im Mai 1943 im Gestapogefängnis Pawiak ermordet. Der Philosoph lehrt, nach dem Schandmärz 1968 aus Polen weggeekelt, heute unter anderem in Oxford. Die Erinnerung des Wissenschaftlers, aufgezeichnet 2007: »Ich sah den Aufstand lediglich von außen. Fuhr man von Z˙oliborz zur Stadtmitte, fuhr die Straßenbahn nicht durchs Ghetto. Von Pferden gezogene Tafelwagen beförderten Fahrgäste. Ich fuhr entlang der Ghettomauern, man sah den aufsteigenden Rauch und hörte Schüsse, aber innerhalb der Mauern war ich nicht. Ich erinnere mich noch an das Karussell auf dem Krasinski-Platz, von dem in Miloszs Gedicht Campo di Fiori die Rede ist. Irgend jemand behauptet, daß Mil⁄osz diesbezüglich phantasiert, dort nie ein Karussell gestanden habe. Aber ich war da, habe es mit meinen Augen gesehen. Leute fuhren Karussell und hatten ihren Spaß daran, und es war unweit der Ghettomauer. In der Luft wirbelten versengte Kleiderfetzen, und niemand schenkte dem besondere Aufmerksamkeit. Natürlich wußten die Leute, daß im Ghetto ein Aufstand ausgebrochen war, und die Kreise, in denen ich lebte, hatten natürlich Sympathien für die Aufständischen, aber die waren nicht Allgemeingut.« (Leszek Kolakowski: Czas ciekawy, czas spokojny. [Spannende Zeiten, ruhige Zeiten]. Znak Kraków 2007, übersetzt von Gerd Kaiser)
Auch der Historiker Feliks Tych, Jahrgang 1930, lebte damals in Warschau. Er sah dieses Ghetto ebenfalls von außen. Bei seinen Streifzügen durch die Stadt entdeckte auch er als 13jähriger das Karussell auf dem Krasinski-Platz und hörte die Rummelmusik. Eine Lehrerfamilie hatte ihn, den Juden, der im September 1942 einem anderen Ghetto entflohen war, bei sich aufgenommen. Damit war sie wie Feliks Tych jederzeit von der Todesstrafe bedroht; sie galt für alle Juden, die ein Ghetto verlassen hatten und für alle nichtjüdischen Polen, die Juden halfen. Unter allgegenwärtiger Todesdrohung wurden 40000 jüdische Menschen in Polen gerettet.
Die Mehrheit der Warschauer, erinnert sich Feliks Tych, habe mit Gleichgültigkeit auf die Kämpfe im Ghetto reagiert. Zwar seien auch Gleichgültige vom Aufstand der Juden beeindruckt gewesen, aber sie  kommentierten das Verbrechen einfach mit: »Die Juden brennen.«
Über jene, die die Existenz des Rummelplatzes und des Karussells negieren, sagte Feliks Tych, später langjähriger Direktor des Jüdischen Historischen Instituts zu Warschau, dieser Tage in einem Zeitungsinterview: »Es gibt Leute, die haben aus hygienischen Gründen etwas aus ihrem Gedächtnis ausradiert.«