Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 12. Mai 2008, Heft 10

Die Umstände sind wir

von Wolfgang Sabath

Ja, ja, die »gesellschaftlichen Ursachen« von Kriegen … In der Nummer 8 des Blättchens hatte sich der Potsdamer Medienwissenschaftler Frank Schubert den Film Die Welle vorgenommen und bezweifelt, daß ein derartiges Experiment, wie es im Film dargestellt wird, tatsächlich funktionieren könne, und daß derartige Wirkungsmechanismen zu Kriegen führten. Schuberts Schlüsselpassage lautete: »Behauptet wird, daß jüngste Beispiele für diesen Wirkungsmechanismus die jugoslawischen Kriege und Ruanda seien, ohne auf die gesellschaftlichen Ursachen, die sorgsame Anbahnung durch Diplomaten und Politiker sowie internationale Interessengruppen […] einzugehen.«
Vor vielen Jahrzehnten lasen wir das Buch von Albert Norden So werden Kriege gemacht. Es war – sozusagen – ein Klassiker der politischen Literatur und ist heute über www.zvab.com zu erwerben (Albert Norden: So werden Kriege gemacht! Über Hintergründe und Technik der Aggression, Dietz Verlag Berlin 1950).
Und als wir es gelesen hatten, glaubten wir doch tatsächlich, wir wüßten es nun. Aber wir glaubten es nur! Seit dieser Zeit hat die Welt bis zum heutigen Tage derartig viele Kriege gesehen, die sich den einfacheren unter den Strickmustern des Historischen Materialismus (selig?) verweigern.
Abgesehen davon, daß Frank Schubert die (filmkünstlerisch notwendige) Überhöhung der Story im Film Die Welle in seiner Kritik unberücksichtigt läßt und die Geschichte sozusagen pur, quasi 1:1 nimmt, sieht er sträflicherweise nicht, welche Rolle uns, »den Massen«, zufällt. Wie leicht sind diese doch, sind wir doch gegebenenfalls zu dressieren. Zugegeben: Das ist keine erbauliche Vorstellung – aber so sind wir eben gepolt. Und nur wenn wir das begreifen und anerkennen, sind wir in der Lage, uns gegen uns selbst zu wehren und halbwegs zivilisiert und krieglos miteinander umzugehen. Es können noch so starke »gesellschaftliche Ursachen« und »internationale Interessengruppen« im Spiele sein – ohne uns geht es nicht. Wir sind Teil der Ursachen, und zwar kein unbedeutender. Hier sind wir, und dort sind die Ursachen – nein, das geht nicht auf.
Und wenn wir aufrichtig mit uns und unserer Geschichte umgehen, kann ich mir einfach nicht vorstellen, daß wir nicht alle Geschichten zu erzählen wüßten, wie wir mal so und mal anders manipuliert wurden, und wie wir manipuliert haben (aber ja doch!). Natürlich kaum in jener Radikalität und nicht in so kurzer Zeit, wie es dramaturgische Prinzipien von einem Film verlangen. Doch wer von sich behauptet, er sei nicht manipulierbar, muß schon über eine gehörige Portion Selbstbewußtsein verfügen. Zumal es ja nicht immer Personen sind, die uns manipulieren, finstere Menschen, die uns zu »verführen« gedenken. Außerdem gibt es ja doch wohl auch Manipulationen zu positivem Verhalten. Die Wirkungsmechanismen unterscheiden sich nicht, die sind weder »gut« noch »böse«.
In dem Verlag, in dem ich einst mein Berufsleben begann, gab es auch eine »Kampfgruppe«. Ich war Mitglied. Vom Hörensagen ist mir bekannt, daß es derer auch ernstzunehmende, »effiziente« gegeben haben soll – aber die Verlags-Kampfgruppe war eine echte Ulknummer. Und die in Abständen veranstalteten Ausbildungswochenenden im Betriebsferienheim zeichneten sich weder durch militärische Disziplin noch Härte aus, sondern waren vorwiegend Besäufnisse in Uniform. Bis heute aber hat sich mir die Erinnerung an mein großes Staunen darüber erhalten, wie – ich komme auf manipulierende Umstände – mit dem Überziehen der Montur und dem Empfang der Waffe innerhalb von sechzig Minuten aus biederen Chefredakteuren von Jugend- und Kinderzeitungen und -zeitschriften zotende, grobe Kerle wurden (mit Ausnahmen, mit Ausnahmen!), die auf der Fahrt durch die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik von LKW herunter Passantinnen hinterherpfiffen. Wenn jetzt noch jemand zugegen gewesen wäre, der uns hätte bewußt zu irgend etwas hätte manipulieren wollen – nicht auszudenken.