13. Jahrgang | Nummer 7 | 12. April 2010

Nicht in meinem Garten!

von Sieglinde Geisel

Den Luxus, jederzeit ins Auto steigen und wegfahren zu können, lässt man sich etwas kosten. In den meisten Haushalten machen die Ausgaben für das Auto den größten Posten des verfügbaren Einkommens aus. Das Auto verschafft dem Einzelnen einen Zuwachs an Lebensqualität, doch gleichzeitig gibt es kaum etwas, was die allgemeine Lebensqualität so nachhaltig zerstört wie der Verkehr. Nichts verschandelt eine Landschaft nachhaltiger als ein Autobahnkreuz. Jeder Dritte leidet laut Umfragen unter Lärmbelästigungen durch den Verkehr.

Manche Städte sind von Wahrzeichen geprägt, die dem Verkehr huldigen, als wäre er eine Religion. In Bratislava etwa schlägt die Verlängerung der Neuen Brücke eine Schneise durch die kompakte Altstadt, als wäre ein Schwert vom Himmel gesaust. In einem ähnlichen Akt urbaner Brutalität wurde zu DDR-Zeiten eine Hochautobahn mitten durch Halle gebaut. Auch der Alexanderplatz in Berlin ist ein Albtraum der autogerechten Stadtplanung.

Die Idee allerdings, dass die Stadt dem Auto Platz machen müsse, ist keine Erfindung der kommunistischen Diktaturen. In den sechziger und siebziger Jahren ergriff die Autobegeisterung ganz Europa, und auch Westdeutschland folgte im Wiederaufbau nach dem Krieg der »progressiven« Vision der »autogerechten Stadt«. Wären alle Planungen umgesetzt worden, gäbe es heute zum Beispiel auf der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg kein multikulturelles Leben. Die Stadtautobahn sollte mitten durch den Bezirk führen. In Erwartung des Lärms hatte man beim Bau einiger benachbarter Hochhäuser vorausschauend gleich auf die Fenster an der Rückwand verzichtet.

Nur der Krieg vermag Städten so viel Gewalt anzutun wie der Verkehr. Während eine zerbombte Altstadt jedoch wieder aufgebaut werden kann, gibt es kaum Kommunen, die für den Abriss ihrer autogerechten Bausünden Geld ausgeben. Eine spektakuläre Ausnahme ist Boston, das in den fünfziger Jahren der Central Artery große Flächen seiner Altstadt geopfert hatte. Die Hochautobahn wurde in den vergangenen Jahren abgerissen und durch einen Autobahntunnel ersetzt. Das Gelände, das früher im Schatten der lärmenden Hochautobahn lag, wird heute als öffentlicher Park genutzt. Der Big Dig gilt als größtes öffentliches Bauprojekt der amerikanischen Geschichte; ohne Zuschüsse der Bundesregierung wäre es nicht finanzierbar gewesen. Doch auch hier ging es nicht in erster Linie um die Stadt, sondern um den Verkehr. Die Central Artery war seit Jahren überlastet. Die Untertunnelung soll den Verkehr nicht nur von der Bildfläche verschwinden lassen, sondern ihm auch mehr Kapazitäten verschaffen.

Alle Konzepte zur Verringerung des Verkehrs sind in den vergangenen Jahrzehnten wirkungslos verpufft. Noch nie hat die Menschheit ein Fortbewegungsmittel wieder aufgegeben, das ihr mehr Bewegungsfreiheit verschafft hat. Im Individualverkehr ist eine Sättigung noch nicht erreicht, obwohl in Deutschland inzwischen jeder zweite Einwohner ein Auto hat, Kinder und Altersheimbewohner eingerechnet. In den USA gibt es gar 765 Autos pro 1000 Einwohner. Niemand zweifelt daran, dass das Verkehrsaufkommen auch in Zukunft größer werden wird. Der Trend zum Wohnen im Grünen ist dabei nur ein Faktor von vielen, denn insbesondere der Anteil des Freizeitverkehrs wird steigen. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der Vereinzelung: Wer mag schon am Samstagabend in seinem Einpersonenhaushalt allein auf dem Sofa sitzen? Wer allein lebt, muss unter die Leute, und dazu muss er sich fortbewegen.

In den nächsten zwanzig Jahren wird der Verkehr laut offiziellen Schätzungen in der gesamten EU um etwa 18 bis 49 Prozent zunehmen. Die Frage, wie dieser Verkehr bewältigt werden soll, gehört zu den unbehaglicheren Herausforderungen der Zukunft. Für die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland rechnet das Bundesministerium für Verkehr mit einer »zunehmenden Überlastung«: »Die Folgen sind Staus, Zeitverluste, Kostensteigerungen, Verkehrsunfälle und zunehmende Umweltbelastungen.« An vielen Knotenpunkten gelangt der Alltagsverkehr schon heute an seine Grenzen. Trotz immer komplexeren Maßnahmen wie Verkehrskreiseln und separaten Linksabbiegerspuren haben längst auch kleinere Orte mit dem Stau zu kämpfen.

Der Verkehr ist ein vielschichtiges System, in dem die Teilnehmer wechselnde Rollen übernehmen. Kaum jemand ist ausschließlich Fußgänger oder Autofahrer, auch wenn Lobbyisten wie der ADAC manchmal so tun. Jeder neigt im Verkehrsalltag dazu, sein eigenes Tempo als Nullpunkt zu sehen, von dem das Tempo der anderen auf störende Weise abweicht. Die Fahrradfahrerin, die sich im morgendlichen Gedränge über rücksichtslose Automobilisten empört, sitzt am Nachmittag selbst am Steuer und ärgert sich über den gemächlich vor sich hin trampelnden Fahrradfahrer vor ihrer Nase.

Am Verkehr sind alle beteiligt, und alle sind von ihm betroffen. In solchen Fällen regiert das St. Floriansprinzip, oder wie die Amerikaner es nennen, nimby: »not in my back yard«. Alle wollen jederzeit nach New York, Amsterdam, Mallorca oder, last minute, irgendwohin fliegen können, aber unter einem startenden Düsenjet schlafen will niemand. Die Kosten der Mobilität bestehen in Lebensqualität – eine Währung allerdings, in der nur jene zahlen, die keine andere haben. Es sind die Ärmsten, die den größten Teil der Lasten tragen und an den Hauptverkehrsachsen hinter doppelt verglasten Fenstern wohnen. In teuren Wohnlagen bezahlt man auch für das Privileg, vom Verkehr verschont zu bleiben. Ruhe ist in der mobilen Gesellschaft ein Luxusgut.

Nicht nur die Menschen müssen für die Kosten der Mobilität aufkommen. Fünf Prozent der gesamten Landesfläche werden in Deutschland direkt für den Verkehr genutzt, doch die Fläche, die indirekt in Mitleidenschaft gezogen wird, ist viel größer. Eine Autobahn etwa, die quer durch ein Naturschutzgebiet führt, unterbricht Wildwechsel und zerstört die Lebensräume vieler Tierarten. Lärm und Abgase breiten sich auch jenseits der zubetonierten Fläche aus. Verkehr stört überall: In dicht besiedelten Gebieten leiden die Anwohner, und wo niemand wohnt, leidet die Natur. Naturschutz besteht zu einem großen Teil im Schutz der Natur vor Mobilität. Sind wir bereit, für die Schönheiten der Natur den selbstlosen Preis zu bezahlen, der darin besteht, nicht hinfahren zu können?

Dieses Kapitel entstammt dem empfehlenswerten Essay „Irrfahrer und Weltenbummler – Wie das Reisen uns verändert“ von Sieglinde Geisel, erschienen im wjs-verlag, 246 Seiten, 19,90 Euro