von Ulrike Köpp
Sucht man derzeit im Berliner Pergamonmuseum die Begegnung mit den Göttern und läßt sich in die Ausstellung »Die Rückkehr der GÖTTER« ziehen, so begreift man vielleicht einmal mehr wieder den Menschen. Ich jedenfalls stand wie vom Donner gerührt angesichts der Ganzheit der Skulpturen, die mir da ins Auge sprang. Denn unsere Wahrnehmung ist geprägt durch die Kunst der klassischen Moderne. Vertraut sind uns die gebrochenen Linien, das zersplitterte Antlitz in den Bildnissen von Picasso, die uns von Kummer und Zweifel, von Verzweiflung und zerrissenen Seelen erzählen. Eben von verlorener Ganzheit und einer zerbrechenden Welt.
Freilich, die menschliche Sehnsucht nach Ganzheit und Glück ist ungebrochen. Die Griechen erschufen sich ihre Götter zur Lebenshilfe, für jeden Bereich des Lebens erfanden sie sich einen Gott oder eine Göttin und projezierten auf diese ihre Sehnsucht nach Schönheit und Vollkommenheit, ihren Anspruch auf ein glückliches Leben. Die griechisch-römische Mythologie verkörperte den vollkommenen Menschen.
In dem Maße aber, wie sich die Menschen von ihren Göttern emanzipierten, suchten sie ihr Glücksverlangen auf andere Weisen zu artikulieren. Über Jahrtausende hin verlagerte sich ihr Streben nach Ganzheit und Vollkommenheit sukzessive auf das Individuum selbst. Diesem Prozeß letztlich verdankt sich das Konstrukt vom »Neuen Menschen«. Denn auch wenn dieser Neue Mensch immer noch wieder als Ausgeburt kommunistischer Ideologie und Praxis dingfest gemacht und denunziert wird – er ist eine alte Erfindung. Schon die Bibel beschwört ihn, und er streift seither in mancherlei Gestalt durch das Dickicht der Geschichte.
N. G. Tschernyschewski etwa schrieb 1863 in Rußland, im Gefängnis sitzend, seinen Roman »Was tun?« In »Erzählungen von neuen Menschen« antizipierte er neue Lebensformen einer zukünftigen Gesellschaft und beflügelte damit eine Generation von Gymnasiasten zu selbstbestimmtem Leben und revolutionären Ideen – zur Beunruhigung der zaristischen Polizei.
In Deutschland um 1900 sammelten sich mehr oder weniger aufmüpfige »Wandervögel« zu einer Jugendbewegung. Sie stilisierten sich beim Wandern, auf ihren »Fahrten« heraus aus den Städten ins Freie, Ungebundene, zu Neuen Menschen. Sie waren damit aber nicht allein, sondern Teil einer Lebensreformbewegung, die sich in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen der Industriegesellschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts entfaltete. Wie Winfried Mogge den Gründungsmythos und die Selbstinszenierung dieser Jugendbewegung dekonstruiert, das taugt gut und gerne zu einem kleinen Lehrbuch für historische Quellenkritik. Auch belegt er das Motiv des Wandervogels in der Literatur vom Barock über die Romantik bis zu seiner massenhaften Verbreitung und Trivialisierung in Literatur und Musik um 1900 – so, daß es fast schon banal wird. Denn das Bild des Wandervogels eignet sich wunderbar zur metaphorischen Beschreibung eines Lebensgefühl – der Sehnsucht nach der Ferne, dem Ziehen in die Fremde, um einengenden und bedrückenden Verhältnissen zu entkommen; um dann wiederum in die vertraute Heimat zurückzukehren.
Mogge focussiert die konservative, die völkische Disposition der Wandervogelbewegung. Vielleicht ist er damit aber allzusehr seinen Quellen verhaftet. Denn diese bürgerliche Jugendbewegung differenziert sich gerade vor und am Beginn des Ersten Weltkrieges in eine rechte und eine linke Strömung. Letztere ist freilich historisch nicht so leicht zu belegen.
Ein Namhafter unter diesen Freideutschen Wandervögeln mit missionarischem Eifer war Alfred Kurella. Er machte sich aber schon früh auf den »Weg zu Lenin«, das Missionarische behielt er bei und wird später als Kulturpolitiker in der DDR den Neuen Menschen heranbilden wollen, sieht den schon in den Kulturhäusern sich selbst verwirklichen.
Andere Jugendbewegte aus seiner Generation wiederum, deutsche Juden, wanderten nach Krieg und Novemberrevolution enttäuscht nach Palästina aus und lebten als Neuer Mensch im Kibbuz. Wer aber im Lande blieb, fand vielleicht die Wanderwege mit »Fichte« im Arbeitersportverein. Und diese Wanderer erfrischten sich womöglich am Ziel ihrer »Fahrt« beim Nacktbaden an einem See in der Umgebung von Berlin.
Immer geht es um die Selbstreform des Individuums als Voraussetzung zur Veränderung der Gesellschaft, wenn nicht der Welt. Und ja, es gab auch die monströse politische Anmaßung, die anderen Menschen glücklich zu machen. Von dem barbarischen Hochmut des sowjetischen Imperiums zeugt die Inschrift am Tor zu einem Arbeitslager am Weißmeerkanal: »Mit eiserner Hand jagen wir die Menschheit zum Glück.«
Aber zurück zum Wandern und zur Freikörperkultur: Sie sind nur Spielarten im Prozeß der Modernisierung, in den die Menschen Glücksverlangen in ihre eigene Lebenspraxis verlagern, und mehr noch, ihren Körper selbst zur Projektionsfläche von Sehnsüchten nach Vollkommenheit und Glück machen.
Es gibt eine höchst profunde Abhandlung von Bernd Wedemeyer-Kolwe über diesen Neuen Menschen. Die vermag Staunen zu machen darüber, wie schon im Wilhelminischen Reich und der Weimarer Republik eine ganze Körperkulturbewegung in Bünden und Zirkeln, in privaten Gruppen und kommerziellen Sportgruppen, in Freiluftbädern und alternativen Siedlungen mit Freikörperkultur und Rhythmischer Gymnastik, mit Yoga und Bodybuilding moderne Leibesübungen praktizierte, die auf physische und psychische Fitness ausgerichtet waren. Alles schon mal da gewesen, denkt man bei der Lektüre. Und ein Indiz dafür, daß der aufgeklärte Mensch in einer »entzauberten Welt« sich nicht mit Atheismus sättigen läßt, sondern immer von neuem nach einem über die schnöde Wirklichkeit hinausweisenden Sinn verlangt.
Hat aber der Mensch sich über Jahrtausende lang bei seinen Göttern oder dem einen Gott seines Da- und Soseins vergewissert, so wird er sich heute immer mehr selbst zu seinem eignen Gott. So kann man das wohl beschreiben, wenn mich Fitness-Clubs werben, ich solle meinen Körper glücklich machen.
Bernd Wedemeyer-Kolwe: »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Verlag Königshausen & Neumann GmbH Würzburg 2004, 519 Seiten, 68 Euro
Winfried Mogge: »Ihr Wandervögel in der Luft …« Fundstücke zur Wanderung eines romantischen Bildes und zur Selbstinszenierung einer Jugendbewegung, daselbst 2009, 159 Seiten, 24, 80 Euro
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