Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 20. Juli 2009, Heft 15

Links?

von Vitense Parber

Wer sich gegen die kapitalistischen Produktions- und Verteilungsverhältnisse wendet, sei links. Diesen Satz würden nicht wenige, sogar solche, die sich selbst politisch links verorten, unterschreiben. Trotzdem ist der Satz nicht nur unsinnig, weil falsch, sondern auch gefährlich Konservative und Autoritäre aller Couleur, sogar viele Nationalsozialisten waren gegen die kapitalistischen Verhältnisse, viele Rechte sind es heute ebenfalls. Auch Jossif Stalin war es. Gemeinsam ist all diesen jedoch eine tiefe Ablehnung der Aufklärung, der Freiheit des einzelnen und damit der Freiheit aller. Mit linker politischer Haltung hat das in keinem Fall zu tun. Links und elitär oder gar autoritär, von diktatorisch nicht zu reden, schließen einander aus.
Zudem: Die Reduktion linker Politik auf die ökonomische beziehungsweise soziale Frage führt nicht nur zu falschen Bündnissen, sondern zurück in das Gehäuse selbstverschuldeter Unmündigkeit, und wird heute mehr denn je mit schwindender Wirksamkeit bestraft.
Unter den französischen Revolutionären von 1789 ff. bildete ursprünglich jener Flügel die Linke, der nicht bei den politischen Freiheiten – also dem Schutz vor staatlicher Willkür, der in der Revolution schrittweise, wenn auch nicht konsequent erfochten worden war – stehenbleiben, sondern diese Rechte um soziale Freiheitsrechte ergänzen, nicht jedoch die politischen Freiheitsrechte abschaffen wollte. Fünfzig Jahre später war das einem Marx noch ebenso selbstverständlich wie einem Bakunin, von Lassalle und, noch später, Rosa Luxemburg ganz zu schweigen. Jedem von ihnen ging es darum, alle Verhältnisse »umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« – so einst in Anschluß an Ludwig Feuerbach der spätere Autor des »Kapitals«. Diese Maxime prägte keineswegs ein allein soziales Programm, sondern verlangte nach einem umfassenden Befreiungsprogramm: nicht weniger als die Freiheit aller von jeglicher politischer Unterdrückung und sozialer Ausbeutung.
Auch die ersten Kämpfe der Arbeiterbewegung galten nicht nur sozialen, sondern sehr wohl politischen Forderungen, vor allem dem Wahlrecht, bei dem die Nichtbesitzenden fast überall auf der Welt anfangs diskriminiert wurden. Um das allgemeine, direkte und gleiche Wahlrecht wurde vom England der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis nach Preußen, wo es erst in der Novemberrevolution 1918 durchgesetzt werden konnte, gestritten: gleiche Bürgerrechte für alle. Und noch mehr: immer mehr Bürgerrechte für jeden. Denn sie bilden die einzige Grundlage, von der aus die politische Emanzipation (ursprünglich vom Feudalstaat) zur sozialen Freiheit und damit zur umfassenden Freiheit fortgetrieben werden kann.
Die russische Revolution vom Oktober 1917 schien diesen Durchbruch zu erzwingen; doch sie endete in einer Jakobinerdiktatur: in einer Diktatur nicht der Mehrheit über eine Minderheit, in einer Diktatur also, die nur als Demokratie gelebt, weil nur so ständig überprüft werden kann, sondern in einer Diktatur einer Minderheit über die Mehrheit. Doch die Aufrechterhaltung einer solchen Staatsform bedarf nun einmal – alternativlos – der Einschränkung und schließlich der Abschaffung aller wesentlichen politischen Freiheiten. Mit linkem Ansatz hat sie nicht das Geringste zu tun. Der Terror der Stalinschen Führung hingegen – zugegeben: in einer in Terror ohnehin eingeübten Gesellschaft – war zwar nicht alternativlos, stellte aber die konsequenteste Fortsetzung des 1917 bis 1921 eingeschlagenen Weges dar.
Jedoch ging die Rechnung nicht auf: Die widerspenstige Gesellschaft wurde – wenn auch wirklich unbeabsichtigt – in den Stillstand gemordet. Und damit läßt sich auf Dauer kein Staat, nicht einmal Diktatur machen. Das Ergebnis, die vertanen Jahre der Agonie und des politischen Scheinlebens, die DDR letzten Endes inklusive, ist bekannt. Die Bürokratie wurde immer mehr zum einzig unermüdlich tätigen Element – und 1989/91 rutschte sie, beinahe lautlos, zusammen. Heute scheint es oft schon so, als hätte es sie nie gegeben.
Doch auch in der linken Politik außerhalb der sowjetisch dominierten Hemisphäre – egal ob von Parteien, Gewerkschaften oder Verbänden betrieben – verschoben sich in den vergangenen hundert Jahren die Gewichte immer weiter vom Kampf um politische zu dem um soziale Freiheiten; daran haben in Deutschland selbst die Jahre des Nationalsozialismus nichts dauerhaft ändern können. Die Parteien reduzierten Politik auf Sozialpolitik und wurden damit zu verlängerten Gewerkschaften. Heute fristen politische Freiheitsrechte ihr Dasein in Sonntagsreden und in Parteiprogrammen, in der praktizierten Politik bilden sie das fünfte Rad am Wagen. Nicht zuletzt deshalb überrascht es wenig, daß sich sechzig Jahre Bundesrepublik. auch als Geschichte der Zurückdrängung politischer Freiheitsrechte lesen lassen – von der Einführung der Fünfprozentklausel (1953) über die Wehrpflicht (1956), die Notstandsgesetze (1968), die Berufsverbotspraxis der siebziger Jahre, die Einschränkung des Asylrechts (1993) bis hin zu den reichssicherheitshauptamtlichen Gruselvisionen hochpotenter Machtgruppen heute; Wolfgang Schäuble ist kein Alleintäter und sollte auch nicht als armer Irrer mißverstanden werden.
Gegen all das gab es bestenfalls, wie bei den Notstandsgesetzen, Widerstand; ein Ausbau politischer Freiheitsrechte – ursprünglich eine Marke linker Politik – fand hingegen kaum statt. Nicht etwa, weil die Bedingungen besonders ungünstig waren – günstiger waren sie in Deutschland selten –‚ sondern weil seit dem Scheitern des Betriebsverfassungsgesetzes in den fünfziger Jahren keine politische Kraft mehr ernsthafte Anläufe unternahm. Statt dessen war das Augenmerk auf eine Mäßigung der Diktatur in der DDR gerichtet – was den Menschen in der Bundesrepublik nichts nützte.
In dieses Vakuum stößt jetzt als Ein-Themen-Bewegung die Piratenpartei, so wie mit der Erhaltung der biologischen Grundlagen menschlichen Lebens einst die Grünen. Alles ehrenwert, wenn auch im Detail vielleicht nicht imemer ganz durchdacht. Ein strategisches Emanzipationsprojekt hingegen ist nicht erkennbar – jedenfalls nicht im politischen Raum.