von Gerd Kaiser
Am 19. April 1943 erhoben sich die Gefangenen des Warschauer Ghettos gegen ihre Deportation in die Vernichtungslager der Deutschen. Dies ist die Geschichte von Alina, die dem Ghetto durch die Solidarität polnischer Bürger entkommen konnte.
Der Gegensatz konnte nicht größer sein: Von Zeit zu Zeit zog eine Gruppe junger Mädchen, gekleidet in Schwesterntracht, durch die grauen Straßen des Warschauer Ghettos. Über rosafarbenen Kleidern, trugen sie weiße Schürzen, auf dem Kopf vorschriftsmäßig gefältelte Schwesternhauben. Vor Kälte schützten marineblaue Pelerinen. Tagtäglich führte ihr Weg sie vom zweistöckigen Internat in der Marianska-Straße, wo sie von Ärzten und Schwestern in Theorie und Praxis unterrichtet wurden, zu einer der drei Tagesschichten im Kinderkrankenhaus in der unweit gelegenen Sliska-Straße oder im Krankenhaus für Erwachsene in der Leszno-Straße und nach der Schicht wieder zurück. Die Oberin führte ein strenges Regime. Zum Teil mehrmals während einer Schicht kontrollierte sie die Arbeit ihrer Schwesternschülerinnen. In ihren pastellfarbenen Kleidern erinnerten die Mädchen an Blumen. Sie schienen Wesen aus einer fremden Welt zu sein. Eine der Schwesternschülerinnen war Alina.
Ihre Mutter, Ärztin aus Berufung, suchte unter den unmenschlichen Lebensbedingungen des Ghettos Leben zu retten, auch das ihrer beiden Kinder. Wie Mutter und Schwester befand sich als jüngstes Familienmitglied Aleksander, Olek genannt, so lange hinter den Ghettomauern, bis es der Mutter gelang, ihn, der in der Umgangssprache jener Besatzungsjahre „gut aussah“ (das heißt nicht auf den ersten Blick als jüdisches Kind zu erkennen war), in einem polnischen Kinderheim unterzubringen, obwohl alle Beteiligten wussten, dass ihnen der Tod von deutscher Hand drohte, wenn das achtjährige jüdische Kind entdeckt werden würde. Nacht für Nacht hatte die Mutter Olek aus dem Schlaf gerissen, um ihn wieder und wieder zu fragen, wie er heiße, wie sein (nunmehr „unverdächtiger“) Familienname sei, welchen Weg er zu gehen habe, nachdem er das Ghetto hinter sich gelassen habe. Die erste Probe auf Leben und Tod bestand er wenige Schritte hinter den Ghettomauern. Er ließ polnische „szmalcowniki“, Lumpengesindel, Erpresser, ins Leere laufen. Diese machten aus antisemitisch motivierter Jagd ein Geschäft mit den deutschen Behörden. Zuerst suchten sie die Opfer zu erpressen und – „wenn nichts zu holen war“ – lieferten sie die Unglücklichen den deutschen Spießgesellen aus.
Olek antwortete „wie im Schlaf“, er hatte seine Lektion gelernt. Sein früheres Kindermädchen holte ihn am vereinbarten Platz ab und brachte ihn in eine fragile Sicherheit. Er überlebte. Nach der ersten Massendeportation aus dem Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka gelang es der Mutter, auch der Tochter Alina einen Weg aus dem Ghetto zu öffnen. In einer zur Arbeit außerhalb des Ghettos eingesetzten Gruppe marschierte Alina eines frühen Morgens aus dem Ghetto. Die Wachen waren bestochen worden. Unterwegs verließ sie unauffällig die Kolonne und ging – wie vereinbart – zu einer bekannten Professorenfamilie. Dort blieb sie drei Tage ohne sich zu regen. Schließlich kehrte sie in einer vereinbarten Arbeitskolonne wieder ins Ghetto zurück, weil es nicht gelungen war, ihr über-lebensnotwendige Papiere, die sogenannte Kennkarte und ein Arbeitsbuch, zu beschaffen. Nach der Januar-Deportationswelle 1943 verließ Alina ein zweites Mal und auf gleichem Weg das Ghetto. Diesmal ging sie in die Wilcza-Straße. Hier wohnte eine ihr unbekannte Professorenfamilie. Deren Oberhaupt befand sich in einem „Oflag“ der Wehrmacht, einem Kriegsgefangenenlager für Offiziere, und war ein Kriegskamerad ihres Vaters. Alina wurde von der Frau und drei Kindern liebevoll aufgenommen. Diesmal erhielt sie nach gewisser Zeit die bewussten Papiere. Da sie auf den Namen Alicja Zacharczyk ausgestellt waren, konnte sie bei dem gewohnten Rufnamen Alina bleiben. Mit den Papieren und der Versicherung, der Frau aus der Wilcza-Straße, dass Alinas Vater im gleichen Oflag gefangen gehalten werde wie ihr Mann (obwohl Alinas Vater dort bereits im November 1939 erschossen worden war) und ihr Mann für ihn bürge, fand Alina schließlich eine Unterkunft im Stadtteil Ursynow – als Untermieterin einer dort wohnhaften Familie.
Nach Kriegsende kehrte der „Bürge“ aus dem Oflag zurück und wurde in Lodz einer der Lehrer Alinas auf ihrem Weg zum Arztberuf. Bis dahin lag aber noch ein langer und gefahrvoller Weg in der Illegalität vor Alina, die sich am Widerstandskampf zur Befreiung Polens beteiligte hatte.
Ostern 1943 wurde Alina Zeugin des Ghetto-Aufstandes. Am 19. April hörte sie vom Krasinski-Platz aus, wie im Ghetto geschossen wurde und sah an den nächsten Tage, wie das Ghetto brannte: „Das Feuer und der Rauch waren von überallher zu sehen. Die Häuser brannten, dichter schwarzer Rauch zog gen Himmel [….] An den Abenden erschien über dem Ghetto der zunehmende Mond, der zu brennen schien […] Damals war es, an der Ghettomauer, dass ich mich das erste Mal in meinem Leben als Jüdin fühlte. Und so bleibt es für immer bis zu meinem Tod …“
Im Herbst 1944 nahm sie am Warschauer Aufstand teil, leistete Hilfe als Sanitäterin. Gemeinsam mit ihren Gefährtinnen führte sie auch letzte überlebende Kämpfer der Jüdischen Kampforganisation (ŻOB), die sich einer Abteilung der in der Illegalität formierten Volksarmee (AL) angeschlossen hatten, aus dem systematisch zerstörten Stadtteil Zoliborz in die relative Sicherheit einer illegalen Unterkunft im unweit Warschaus gelegenen Grodzisk. Unter ihnen war auch Marek Edelman, einer der fünf Befehlshaber der ŻOB.
Nach Kriegsende kehrte Alina ins heimatliche Lodz zurück, wohin auch ihre Mutter kam, die nicht nur ihre eigenen Kinder vor dem Tod bewahrt hatte. Nach Lodz kam auch Marek Edelman. Nach dem Studium wurde Alina Kinderärztin, Marek ein vielgerühmter Herzchirurg. Beide gerieten in die Strudel, die von der antisemitischen Welle des Schandmärz 1968 ausgingen. Obwohl kujoniert, blieb Marek bei seinen Patienten in Lodz – und wehrte sich, wie er sich sein Leben lang gegen Unrecht zur Wehr gesetzt hatte. Als ich ihn im Frühjahr des Jahres 2001 in seinem bescheidenen Wohnhaus in Lodz besuchte, fragte ich ihn, warum er geblieben sei. Er, der damals letzte noch lebende der fünf Kommandeure des Ghettoaufstandes vom April 1943 sagte: „Ich dachte: Einer muss doch hier bei denen bleiben, die auf diesem Flecken Erde […] umgebracht worden sind, die für Gerechtigkeit und Wahrheit und für die Freiheit gestritten haben.“ Er verstarb 2009. Seine Frau Alina hatte, der beiden Kinder und der antisemitischen Bedrohungen wegen, 1970 Polen verlassen. Seit 1971 gehörte sie zu den „Ärzten ohne Grenzen“, leistete medizinische Nothilfe für kranke oder verwundete Kinder in Krisen- und Kriegsgebieten wie im Tschad, in Afghanistan und El Salvador. Sie verstarb ein Jahr früher als Marek in der Emigration.„Scheinbar erging es uns so, wie es auch allen anderen Menschen hätte ergehen können. Aber, waren wir nach all dem Erlebten in jenen Jahren noch wie alle anderen?“
Alina Margolis-Edelman: Als das Ghetto brannte. Eine Jugend in Warschau, Metropol Verlag, Berlin 1999, 139 Seiten, 14 Euro (polnische Originalausgabe: Ala z elementarza, Londyn 1994)
Schlagwörter: Deportation, Gerd Kaiser, Vernichtungslager, Warschauer Aufstand, Warschauer Ghetto