Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 6. Juli 2009, Heft 14

26 Grad in China

von Dorit Lehrack, z. Z. Peking

Im Pekinger Sommer klettern die Temperaturen schon einmal auf 40 Grad – bei meist grauem Himmel und 99 Prozent Luftfeuchtigkeit. An den schwülheißen Abenden treibt es selbst Freiluftfanatiker in klimatisierte Räume. In denen jedoch hatte man vor einigen Jahren besser eine Jacke griffbereit, sonst wurde es zu kalt, und am nächsten Tag lief die Nase. 18 Grad auf der Klimaanlage war die Regel. Wollten die Gastgeber dem Europäer etwas wirklich Gutes tun, durfte man in 15 Grad kalten Räumen bibbern.
Die Energiebilanz dieser Verschwendung schlug zu Buche. Ganze Stadtviertel waren stundenweise ohne Strom, die Kraftwerke waren auf die Last nicht ausgelegt, Betriebe wurden auf weniger energieintensive Nachtstunden umgestellt. Die Pekinger Stadtregierung und das Vorbereitungskomitee für die Olympischen Spiele erkannten das Problem – wir sprechen vom Jahr 2004, »Grüne Spiele« wurden vorbereitet – und forderten Einwohner, Institutionen und Betriebe der Stadt auf, die Temperatur der Klimaanlagen um ein – ja, wirklich, um ein winziges und nicht wahrnehmbares Grädchen – zu erhöhen. Global Village of Beijing, eine einflußreiche und relativ große Pekinger Umwelt-NGO, geleitet von einer resoluten und im Ausland hochdekorierten ehemaligen Journalistin, wurde »beauftragt«, für das Grädchen zu werben – mit Broschüren und Informationsblättern, die in Hotels ausgelegt werden sollten. Global Village startete prompt, immerhin zahlte die Stadt einen kleinen Obolus.
Glücklich waren die Umweltschützer mit dem staatlich vorgegebenen Ziel allerdings nicht. Da wäre doch weit mehr drin, murrten vor allem die Ehrenamtlichen der Organisation. Das sei doch Augenwischerei, das eine Grad sei nicht einmal meßbar, dafür ließe man sich nicht mißbrauchen. Die Meinungen gingen auseinander: Hier sei endlich die Chance, mit dem Staat zu kooperieren. Es gäbe ein gemeinsames Ziel. Eine gute Gelegenheit, das Potential der Organisation zu zeigen und die in China so wichtige »gute Beziehung« aufzubauen.
In der kleinen, aber gut vernetzten Szene der Pekinger Umweltschützer sprach sich der dubiose Auftrag schnell herum. Man rümpfte über die Kollegen die Nase, die sich vom Staat für unsinnige »Umwelt«ziele einspannen ließen und sann über Gegenstrategien nach. Wenn schon Energie gespart werden sollte, dann wenigstens als fühlbarer Beitrag zum Klima- und Gesundheitsschutz. An der konstituierenden Sitzung zur Klimakampagne nahmen die sieben großen Pekinger Umweltverbände teil. Das war ein Novum. Man war sich schnell einig, daß man dem staatlich verordneten Grädchen einige gewichtige Grade hinzufügen wollte. Auch Global Village, leicht beschämt wegen mangelnder Zivilcourage, war mit im Boot. Was aber war eine durchsetzbare Forderung? Welche Wärme würden die unter Hitzestreß leidenden Pekinger in ihren Räumen akzeptieren? Konnte ein Effekt überhaupt gemessen werden, und, wenn ja, wie? Es war eine heiße Debatte in einem überhitzten Beratungsraum – anläßlich des Themas wagte es niemand, die Klimaanlage anzuschalten. Jemand schlug 27 Grad vor; aber diese Zahl paßte nicht in die chinesische Zahlenarithmetik, und bei einer schlechten Zahl ist die gesamte Aktion zum Misserfolg verdammt. Ausgerechnet die Chefin von Global Village hatte den rettenden Vorschlag, und noch am selben Tag war die 26-Grad Kampagne samt Logo geboren.
Knapp einen Monat, bis zum 26. April, gaben sich die Umweltschützer, um eine Allianz aus weiteren Organisationen zu bilden und diese auf einer hochkarätigen Pressekonferenz der Öffentlichkeit zu präsentieren. Nach genau diesem Monat waren alle dabei, einschließlich der Creme de la Creme der Umweltbewegung: Greenpeace und WWF. Der Zahlenarithmetik folgend, sollten am 26. Juni die ersten Mitstreiter vorgestellt werden. Ab spätestens da sollte die Kampagne ein Selbstläufer werden, getragen und vorangetrieben von prominenten »Botschaftern« der 26 Grad. Am 26. September sollte die Kampagne beendet werden, natürlich mit einem großen Erfolg. Wie der aussehen konnte, wagten sich die Organisatoren noch nicht zu denken.
Einig war man sich jedoch, daß es bei diesem Ziel keine Verlierer gäbe. Energie und somit Kosten würden gespart, das Gesundheitswesen weniger belastet, das Klima geschont … Warum nicht bei denen beginnen, die genug Umweltbewußtsein mitbringen und wirtschaftlich profitieren? Die Idee stand: Man würde sich an die internationalen Fünfsternehotels wagen: die Kempinskis und Sheratons, die Novotels und Hiltons … Der erste Versuch funktionierte: Der Chef des Kempinski Peking war hellauf begeistert. Natürlich würde sein Hotel mitmachen und die 26 Grad propagieren – allerdings müßte er etwas in die Hand bekommen, das er den Gästen zeigen könnte. Also entwickelten die Umweltschützer eine Ehrenurkunde, groß genug, um in den Foyers der Hotels Platz zu finden, und vereinbarten, diese am 26. Juni feierlich an die Mitstreiter zu übergeben. Das Hilton-Hotel sponserte die Pressekonferenz, die überraschend stark besucht war, da ein überaus prominenter Schauspieler als »Patron« der Kampagne gewonnen werden konnte, die Chefs der großen Umweltverbände sowie bekannte Ärzte und Wissenschaftler die Kampagne unterstützten. Die Journalisten drängten sich in den überfüllten, 26 Grad warmen Raum des Hilton-Hotels. Das Medienecho war enorm, das Thema füllte die Schlagzeilen der großen Zeitungen. Am 26. Juni – genau nach Plan – konnten die Umweltgruppen die ersten zehn Zertifikate an internationale Fünfsternehotels überreichen – Gastgeber war dieses Mal das Sino-Swiss Hotel (ehemals Mövenpick), das den Pool-Bereich und Häppchen zur Verfügung stellte.
Mit diesen prominenten Vorbildern wandte sich das Koordinationsteam nun an die nationalen Hotels, später an die Einkaufspaläste und öffentlichen Institutionen. In der Zwischenzeit hatte sich die Kampagne über China ausgebreitet – Umweltorganisationen in Shanghai und Kanton erbaten Rat. Auch in Chongqing – der mit fast 35 Millionen Einwohnern wohl größten Stadt der Welt – bildete sich eine 26-Grad Allianz.
Knapp ein Jahr später verkündete die Pekinger Stadtregierung zuerst die Empfehlung und dann den Beschluß, die Klimaanlagen der Stadt auf die Richttemperatur von 26 Grad einzustellen.

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