Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 8. Juni 2009, Heft 12

Mitleid mit Schröder

von Max Klein, z. Z. Liverpool

Hier geht es nicht um Gerhard, der schon für sich selbst sorgt. Wie sein Kollege Müntefering, Angela Merkel angreifend, kürzlich sagte, ging es dabei immer um Deutschland. Ob solcher Dreistigkeit beginnt man, »Angie« zu verteidigen, wie man oft Dinge instinktiv verteidigt, wenn die Angriffe zu durchsichtig oder zu maßlos werden. Meine Tante, die mit uns in Berlin-Ost lebte und von der Sache gar nichts hielt, wofür es ja Gründe gab, konnte die DDR ziemlich vehement verteidigen, wenn ihre westdeutsche Verwandtschaft in freundlich überlegener Weise klarmachte, wer wie lebte.
Hier nun geht es um den Leiter eines Forschungsverbundes an der Freien Universität Berlin. Da es sich um den »SED-Staat« als Aufgabe handelt, muß es ein Verbund sein, eine Forschungsgruppe ist zu wenig, was ja sein mag. In einem »Mitleid mit den Eltern« überschriebenen Spiegel-Interview (18/2009) macht Klaus Schröder klar, wie wir unsere Vergangenheit zu sehen haben. Das Interview ist nur eine halbe Seite lang, da muß man sich kurz fassen, jedoch graut mir vor einer eventuellen Langfassung.
Es beginnt mit der Bemerkung, »20 Jahre nach dem Mauerfall erreicht die Verklärung der DDR ihren Höhepunkt. Man unterschätzt, wie viele Menschen sich noch mit dem Regime identifizieren.« Nach zwanzig Jahren denkt man anders als zwanzig Minuten nach dem Mauerfall. Nach zwanzig Jahren hat man eine sehr lange Zeit im größeren Deutschland gelebt und seine Erfahrungen gemacht. Man kommt also in die Lage, Vergleiche anzustellen. Der gewollte Vergleich ist der mit der Nazizeit, zu dem viel oder gar nichts zu sagen ist. Der aber angestellte Vergleich ist der zum Verhalten der Menschen damals und heute. Man wird die Mauer, die staatliche Dummheit, die Anmaßung, eine Gesellschaft per Anweisung leiten zu wollen, nicht vergessen. Man sieht, wieviel besser es ist, keine Mauer in Deutschland zu haben – keine neue Erkenntnis. Man erkennt aber auch, daß an die Stelle der alten eine neue Hierarchie getreten ist, und daß die Mehrheit der Menschen einfach folgt, um leben zu können, seinerzeit wie jetzt. Während man von uns im Grunde verlangte, die Mauer einzureißen, was sogar geschah, trauen sich viele meiner Kollegen nicht mal, öffentlich zu widersprechen, wo es nur um Sachfragen geht. Man darf die Gesellschaft sehr wohl aufklären und hat endlich eine freiere Presse. Der Versuch jedoch, im Inneren eines Bereichs wirklich anderes zu wollen, wird selten gewagt. Die neue deutsche Gesellschaft ist freier als unsere alte, sie hat aber Disziplinierungsmechanismen, die ebenso offensichtlich, wenn auch subtiler sind.
Die Unterstellung Schröders von der »Identifikation mit dem Regime« verkennt den Unterschied zwischen dem Regime, nach dem sich allenfalls dogmatische Machtmenschen der alten Zeit zurücksehnen können, oft nicht wegen des »Regimes«, sondern ihres eigenen Machtverlusts wegen, und dem Leben in der DDR. Man identifiziert sich mit dem Leben damals, über das man schon nachdenken muß, vielleicht wirklich anders und mehr als unsere »Brüder und Schwestern«. Man erkennt, daß man ein Recht auf dieses Leben hatte und die Pflicht, es zu leben. Wie Max Planck einmal schrieb, bei der Beurteilung des eigenen Lebens solle man sich die Umstände vergegenwärtigen, die es seinerzeit bestimmten. Das muß man auch zwanzig Jahre danach tun.
Schröder beklagt, die »Delegitimation der SED-Diktatur ist bislang unzureichend gelungen«. Auch Mitglieder der SED wußten, daß die Legitimation der Partei nicht gelungen war. Die Mauer war eine um die DDR, nicht nur um Berlin-West. Die Wahlen waren Zustimmungsverpflichtungen und jedenfalls am Ende gefälscht, was nie vergessen möge, wer Egon Krenz’ neudeutschen Widerstandskampf bewundern möchte, Krenz war damals Vorsitzender der Wahlkommission, und er hätte etwas tun können und anderes unterlassen müssen. Die Staatssicherheit war das Ende der DDR, nicht ihre Sicherheit.
Es ist folglich ganz unklar, warum der Forschungsverbund etwas delegitimieren muß, was im strengen Sinne gar nicht legitim war. Offenbar hat der Verbund keine Logiker einbezogen. Zu der Frage, warum denn dann nicht alle einen Aufstand versuchten, kann man auf ’53 und ’89 verweisen, aber auch darauf, und das werden die Verbundforscher schon gar nicht erfassen, daß es eine Idee von Kultur und Gerechtigkeit im Grundverständnis der denkenden Ostdeutschen gab, die durchzusetzen man lange versuchte. Man kann Afghanistan nicht mit westlicher Demokratie beglücken, mit Waffen schon gar nicht, und man ist gezwungen, die DDR in ihren Umständen zu begreifen, was sowohl von außen als auch für uns schwer ist.
Man kann jeden Absatz des Interviews nehmen und sich nur wundern. »Durch die Schilderungen eines skurrilen Alltags verschwinden die Grundrisse der Diktatur.« Es gab in der DDR garantiert mehr Skurrilitäten, als dem Verbund bisher aufgegangen sein mag. Es ist vielleicht gut, daß man manches vergessen hat. Jedoch kann ich nicht erkennen, wie sich unser Leben von dem im Westen im Alltag wirklich unterschieden hat, wenn man mal die leeren oder vollen Baumärkte oder den Trabant-Käfer-Vergleich beiseiteläßt, das heißt die deutlich verschiedenen Grade der Versorgung mit wirklich oder weniger notwendigen Gütern. Als jemand, der heute an einer englischen Universität lehrt, behaupte ich, daß die Bildungsansprüche in der DDR entwickelter, umfassender, tiefer und die tatsächliche Ausbildung härter und besser waren als heute, was nicht auf Englands Besonderheiten hinweist, sondern auf den europaweiten Eingriff der Wirtschaft in die Bildung.
Es ist folglich kurzsichtig und ziemlich grob, wenn Schröder einfach auf die »Indoktrination« in den Schulen hinweist. Viele unserer Lehrer waren außerordentliche Persönlichkeiten, hervorragend gebildet, etwa wie mein später in Sachsen bekannt gewordener Englischdozent Meier, der, wie andere auch, frei aussprach, wenn es ihm mal reichte. Andere Lehrer waren eher einfältig, eine gewiß normale Mischung. Die Hochschulreform des Jahres 1969 mit der Einführung, und baldigen Wiederabschaffung, des Vierjahresstudiums an der Universität, war genauso bizarr begründet worden wie der Bologna-Unfug des Bacchelor, wonach man Physiker in drei Jahren werden kann, was ja wichtig für die Wirtschaft wäre. Damals rettete man immerhin die Zeit und den Anspruch für ein eigenständiges Diplom, heute nicht, und das alles wird von Intellektuellen vollstreckt, die es doch besser wissen sollten. Es ist eben schwer zu widersprechen oder gar etwas zu ändern.
»Den Konflikt der Generationen gibt es im Osten kaum.« Man kann seinen Kindern schon erklären, warum man wie damals gelebt hat und warum einem manches heute merkwürdig vorkommt, was damals war. Wo Klaus Schröder die Grundlage für einen Generationskonflikt sieht, bleibt sein Geheimnis. Da für ihn die Axiome klar sind, muß man sie nicht erforschen, man ist ja ein Verbund von Gleichdenkenden, oder nicht. Man war sich damals oft einig mit seinen Kindern, wir mit unseren Eltern, über die Beurteilung von Dämlichkeiten des Regimes wie auch Vorzügen, wenn man es denn wagen darf, von solchen zu sprechen. Es ist ja nicht so, daß eine ganze Elterngeneration Biermann ausgewiesen hat, wofür ihre Kinder sie heute abstrafen müßten. Eher wissen viele nicht mehr, warum man die »Drahtharfe« in der DDR weiterreichte, und also gibt es Stoff für Gespräche. Interessanterweise muß man erst ein gewisses Alter erreichen, manchmal, um für die Geschichten der Eltern tieferes Interesse zu entwickeln, und es mag also so sein, daß man zwanzig Jahre Abstand braucht, nicht zur Verklärung, sondern zur Aufklärung.
Im Schlußakkord des Interviews, der Platz reicht Schröder nicht mehr zu ausführlicher Abwägung, kommt es ganz hart. »Lehrer müssen von der ungleichen Vermögensverteilung sprechen.« Erstens müssen sie nicht, sondern sollen unterrichten, und zweitens ist das ja ein besonderer Witz angesichts der heute und hier ersichtlichen wirklichen Unterschiede. »Wenn es um das Recht auf Arbeit geht, muß auch die Pflicht zur Arbeit erwähnt werden.« Man bemerkt den Ton der Ansprache, nun muß man wieder – nicht selbst denken, sondern Schröders Axiome verbreiten. Es ist evident, daß es heute kein Recht auf Arbeit gibt, und die Folgen sind es auch. Das Recht auf Arbeit eignet sich nicht zur »Delegitimation« und die Pflicht auch nicht, es ist ein Thema der heutigen Zeit, was der Verbundforscher wohl nicht begreift.
Zu Recht weist er auf Umweltverschmutzung hin, die Werra war weiß und die Elbe halb tot. Die Behauptung, das sei »vielen ehemaligen Ostbürgern« nicht bekannt gewesen, mag man nicht kommentieren, allenfalls denkt man über den Gebrauch des Wortes »ehemalig« nach, die DDR war nicht die ehemalige DDR, sondern die DDR, und wir waren und sind häufig noch Ostbürger, die Himmelsrichtungen vergehen nicht.
Der Schrödersche Schlußakkord lautet: »Die Schüler müssen gegen Gesäusel immunisiert werden, sonst werden sie verführbar, auch für rechtsextremes Gedankengut.« Hier fragt man sich manches. Erstens wird damit wohl behauptet, wir wären nicht in der Lage zu denken und zu sprechen, sondern offenbar säuselt der mittlere Ostbürger. Zweitens drängt sich die Frage auf, warum unsere Kinder in der heutigen Zeit Anti-Nazi-Aktionen durchstehen müssen und wir damals nicht, warum der jetzige Staat anfällig und offen für rechtsextreme Bewegungen ist, und der damalige so nicht. Im Grunde ist Schröders Interview eine intellektuelle Beleidigung und Zumutung.
Einen Fortschritt gibt es wirklich, man darf heute öffentlich gegen in Mainstream-Journalen vertretene Mainstream-Auffassungen auftreten, nutzen wird es kaum, aber man darf es und hat das zunehmende Bedürfnis. Es ist ziemlich unerträglich, ich gebe Klaus Schröder recht, ein indoktriniertes, verfehltes Säuselleben in der Nähe des rechten Gedankengutes gelebt zu haben. Man kann verstehen, was falsch und unverzeihlich war, man muß sich jedoch einer gewissen geistigen Mühe unterziehen, so man dazu in der Lage ist. Man wird erkennen, daß der Versuch, eine gerechte Gesellschaft aufzubauen, damals am Mangel an Vertrauen und Freiheit gescheitert ist und heute kaum unternommen wird, weil nun wieder alles anders ist, vieles gut und manches unerträglich, und wieder berührt das nur wenige.
Ohne Kenntnis, Kultur und Humanismus kann man keinen Staat begreifen und die Untertanen ebensowenig.