Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 25. Mai 2009, Heft 11

Hackordnungen

von Wolfgang Sabath

Der Mann ist ein deutscher Prof. em., und er fährt heute immer noch – es war und ist ja sein Fachgebiet seit Jahrzehnten – zu Kongressen, auf denen vor allem über die Literatur und die Literaten des einstigen Jugoslawiens debattiert wird. Unter anderem. Aber dem neuen Zeitgeist zufolge (der natürlich bei Lichte besehen, gar kein neuer ist …) soll es so etwas wie »jugoslawische Literatur« gar nicht geben beziehungsweise gegeben haben. Und redet der Mann also vor Serben, benutzt er deren Idiom, redet er vor Bosniern, befleißigt er sich, ihnen nicht allzu »serbisch« zu kommen; und wenn er – was allerdings seltener der Fall ist – vor Kroaten spricht, versucht er, »Serbisch« oder »Bosnisch« zu vermeiden. Denn er darf ja die jeweiligen Zuhörer nicht verprellen (und daß er in seinem Herzen nach wie vor ein überzeugter Jugoslawe ist, muß er – außer bei den Serben – natürlich auch verbergen …). Doch eigentlich redet der Mann hier wie dort und anderswo immer »Serbokroatisch«. Inzwischen allerdings wird die Existenz dieser Sprache schlichtweg geleugnet, sie werde – heißt es auch in dem hier in Rede stehenden Buch – »meist nur noch an westlichen Universitäten verwendet«. Wie fragwürdig oder des Hinterfragens würdig eine derartige Haltung ist, wird auch dadurch verdeutlicht, daß immerhin 95 Prozent des Sprachschatzes identisch sind. Was also ist dann Kroatisch? Was ist dann Bosnisch? Was ist dann Serbisch?
In einem Abschnitt des insgesamt sehr interessanten und äußerst materialreichen Buches (man wundert sich bei der Lektüre darüber, was man alles nicht gewußt hat …), in dem es um Uschkoken geht (einstens, grob vereinfacht, in Slowenien angesiedelte Serben), fand sich eine Passage, in der mir die ganze Fragwürdigkeit nationalistischen Brimboriums deutlich wurde. Auf die Frage nach ethnischen Zugehörigkeiten antwortet dort ein dazu Befragter in selten schöner erfrischender Natürlichkeit:
»Die Erklärung ist ganz einfach. Wird die Publikation in Belgrad herausgegeben, sind wir Serben. Wird sie hingegen in Kroatien gedruckt, sind wir Kroaten. … Wenn du dich als Kroate fühlst, dann sei Kroate. Und wenn du dich als Serbe fühlst, dann bist du eben Serbe.«
Das Buch vermittelt einen Überblick über Die Minderheiten in Osteuropa, von Estland bis Bulgarien (vom ehemaligen Jugoslawien ist nur Slowenien vertreten). So unterschiedlich wie die Länder, so unterschiedlich sind auch die Herangehensweisen der jeweiligen Autoren. Jedes Land wird von einem anderen Autor behandelt. Das führt nicht nur zu unterschiedlichen Handschriften, sondern es werden auch unterschiedliche Intentionen erkennbar.
Selbst, wenn glücklicherweise zum Beispiel im Baltikum »nachjugoslawische« Auseinandersetzungen, Turbulenzen und Kriege nach dem Auseinanderbrechen der UdSSR ausgeblieben waren (insbesondere in Tallinn und Riga mögen EU-Wünsche und -Erwartungen so manchen rabiaten krawallbereiten Nationalistiker »ruhiggestellt« haben), fallt zweierlei auf: Erstens bewegt jede Volksgruppe – gehört sie nun zur »Titularnation« oder zur »Minderheit« – in einer Art Hackordnung, jeder findet immer noch einen, dem er sich überlegen dünkt. Das wird von Menschen, mit denen die Autoren redeten oder über die sie berichten, mal nur dezent artikuliert, mal kräftiger; mal bezieht es sich nur auf mehr oder weniger läppische Erscheinungen in der Alltagskultur, mal wird ein ganzer Volkscharakter mit negativen Stereotypen belegt.
Eine zweite Auffälligkeit besteht darin, daß insbesondere mit den drei baltischen Ländern – sowohl mit ihrer Geschichte als auch mit befremdlichen Erscheinungen in ihrer Minderheitenpolitik – sehr »schonend« umgegangen wird; darin folgt auch diese Publikation einer ungeschriebenen, wenn auch erstaunlich lückenlos praktizierten Regelung in der deutschen Gegenwartspublizistik. Beispiel: Just in der Zeit, als das vorliegende Buch erschien, lasen wir die – auch die natürlich weitgehend unkommentiert gebliebene! – Zeitungsmeldung, daß in Riga eine Art »Sprachpolizei« über Marktplätze und durch Läden und Apotheken schlendert, um vor allem im Geschäftsleben den Gebrauch des Russischen zu reduzieren und auf diese Weise das Lettische zu fordern und Letten, die des Russischen nicht mächtig sind und darum oft schwerer Arbeit finden, zu unterstützen. Diese Beamten dürfen auch deftige Bußgelder verhängen. Doch mehr als ein »Du, du!« aus Brüssel oder knappgehaltene Verwunderungen hatten die Letten wegen dieser Sprachschnüffler nicht zu gegenwärtigen. Und von deutschen Korrespondenten oder Auslandsredakteuren sowieso nichts. Denn die sind mit Putin ausgelastet.
Ähnlich zurückhaltend wird hierzulande oft mit baltischer Geschichte umgegangen. Auch in diesem Buch wieder. Jeder, der sich schon einmal mit der Vernichtung der Rigaer (beziehungsweise der von den Nazis nach Riga deportierten deutschen) Juden beschäftigt oder wenigstens etwas darüber gelesen hat, weiß um die Rolle und den Eifer von Letten, wenn es gegen Juden ging. Das kommt in dem Buch nicht vor. In ihm wird vermerkt, daß 1939 an die 100 000 Juden in Lettland lebten. Dann geht es weiter: »Nach Kriegsbeginn und der raschen Besetzung Lettlands durch die Nazitruppen konnten nur ca. 10 000 lettische Juden in die inneren Gebiete der Sowjetunion fliehen. Die restlichen 85 000 (89,5 %) fielen dem Holocaust zum Opfer.« (Hervorh.: W. S.) Dann folgt nahtlos eine Passage über antijüdische Repressalien in den fiinfziger Jahren, über jüdische Gruppen in den Siebzigern (die Samisdat-Publikationen vertrieben) und schliel3lich über die jüdische Emigration aus der Lettischen SSR zwischen 1968 und 1980 (über 13 000 Personen).
Diese Passage ist in ihren Proportionen und vor allem in ihren Weglassungen eine derbe Unverschämtheit. Da hätte wohl Herausgeberin Ruth Leiserowitz, habilitierte Osteuropahistorikerin, ergänzend eingreifen können.

Ruth Leiserowitz (Hrsg.): Die unbekannten Nachbarn Minderheiten in Osteuropa, Ch. Links Verlag Berlin 2008, 285 Seiten, 19,90 Euro