von Holger Politt, z. Z. Riga
Rigas Straßenbahnen und Trolleybusse zeigten sich feierlich, sie waren geschmückt mit den Landesfarben und mit dem Symbol der Europäischen Union. Der Europatag fiel in diesem Jahr auf den 9. Mai. Im Vorfeld regte Rigas Stadtoberhaupt Janis Birks unmißverständlich an, in diesem Jahr einer anderen großen öffentlichen Veranstaltung für diesen Tag die Zustimmung zu verweigern: Der Tag des Sieges, der seit zehn Jahren vor allem durch den russischsprachigen Bevölkerungsteil am Siegesdenkmal mit großem Programm gefeiert wird, solle vorerst besser nicht mehr stattfinden, denn an ihm würden sich in der Mehrheit illoyale Bürger beteiligen. Ein Sieg für die lettische Demokratie und die Vernunft allemal, daß der Stadtrat das Stadtoberhaupt überstimmte.
Das Programm zum Tag des Sieges wurde eingeleitet mit einer Live-Übertragung der Militärparade auf dem Roten Platz. Zu sehen war da aus Moskau an der Spitze die Flagge der Russischen Föderation, danach die Fahne des Sieges, die Flagge der Sowjetunion. In Riga dominierte anfänglich eindeutig die Farbe Rot – wegen des in Lettland geltenden verfassungsrechtlichen Verbots der Symbole totalitärer Herrschaft ohne Hammer und Sichel. Als die Polizei an diesem Tage ein einziges Mal gewaltsam einschritt, wurde ein Mann abgeführt, der mit der Sowjetflagge erwischt worden war. Einen Steinwurf weiter hielt eine Kriegsveteranin ihr rotes Banner mit einem aufgenähten roten Quadrat an der besagten Stelle in den regengrauen Himmel. Das ist von Rechts wegen noch erlaubt.
Während am Denkmal das durch die Besucher angelegte Blumenmeer im Tagesverlauf schier unglaubliche Ausmaße annahm, wechselten am Rande allmählich die Farben. Je jünger die Teilnehmer desto offensichtlicher wurde die Sympathie für das heutige Rußland. Diejenigen, die zu früher Stunde sowjetisches Rot trugen, hatten ihr Tuch längst schon eingerollt. Und so kontrastiert die ganz oben und offiziell wehende Fahne Lettlands mit dem Weiß-Blau-Rot des heutigen Rußlands, das von unten dagegengehalten wurde. Als während des abschließenden Feuerwerks wie bei einem Fußballspiel »Rußland«-Rufe die Runde machten, war gut zu sehen, wer die Schlachtrufe ausstieß: junge Menschen, die zum Zeitpunkt der lettischen Unabhängigkeit 1991 noch kleine Kinder waren oder erst danach auf die Welt gekommen sind.
Zu später Abendstunde nach Beendigung des Festes zog, bevor er sich in alle Himmelsrichtungen auflöste, ein breiter Menschenstrom über die durch die Polizei abgesperrte Düna-Brücke in Richtung Innenstadt, genau dorthin, wo das Okkupationsmuseum seit sechzehn Jahren seinen Platz hat.
Anders als im gleichnamigen Museum im estnischen Tallinn setzen die Museumsgestalter in Riga vor allem auf die Wirkung eines einzigen unbestechlichen Dokuments, dessen Echtheit durch sowjetische Instanzen bis fast ans Ende der eigenen Herrlichkeit vehement bestritten worden war: Am Anfang und gleichsam im Mittelpunkt der Dauerausstellung steht der Ribbentrop-Molotow- Vertrag vom 23. August 1939, mit dem zwischen Berlin und Moskau Einflußsphären abgegrenzt wurden, deren sich die eine Seite bemächtigen durfte, ohne Skrupel und ohne mit einer militärischen oder diplomatischen Gegenwehr der anderen Seite rechnen zu müssen. So geschah es dann in den Monaten nach dem 1. September 1939, dem Ausbmch des Zweiten Weltkriegs, wovon die Republik Lettland ihr Lied zu singen weiß.
Problematisch indes ist die Zeitdauer, für die das Museum Zuständigkeit und Gültigkeit beansprucht. Die Okkupationszeit endete nach dieser Auslegung mit der erneuten Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1991. Dazwischen habe es drei militärische Besetzungen gegeben, die erste von 1940/41 durch die Rote Armee, dann, nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, von 1941 bis 1945 die durch die deutsche Wehrmacht, schließlich nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht die erneute und bis 1991 andauernde durch Rote Armee beziehungsweise Sowjetarmee.
In der lettischen Gesellschaft hocken beide Seiten in den Schützengräben der Geschichte. Von dort aus scheint eine konstruktive Lösung, ein auf längere Sicht tragfähiger Kompromiß im Augenblick unwahrscheinlich zu sein. Zu schroff und unvermittelt stehen die beiden Seiten sich gegenüber. Auch wenn im Alltag – jenseits der immer wieder angerufenen Geschichte – Vermittlungen längst greifen, verweigert auf beiden Seiten ein Großteil der Bürger die – für das Funktionieren multikultureller Gesellschaften so wichtige – »Normalisierung« auf der emotionalen Ebene.
Der Rigaer Oberbürgermeister hätte also viele und gute Gründe gehabt, am 9. Mai am Denkmal für den Sieg über den Hitlerfaschismus zu erscheinen. Zumal in Lettlands Hauptstadt keine nach Sprache und ethnischer Herkunft strukturierte Mehrheit ausgemacht werden kann. Janis Birks hätte sich also gut für eine Initiative aussprechen können, mit der Diskriminierungen auf dem Gebiet der Zuerkennung der lettischen Staatsbürgerschaft beseitigt und der historisch bedingten und zwangsläufigen Zweisprachigkeit der Stadt mehr Raum in ihrem Erscheinungsbild gegeben werden könnte.
Der Geist eines Okkupationsmuseums wird den Lauf der Dinge nicht auf ewig richten können. Als Mahnung für die schlimmen Jahre von 1939 bis 1945 sollte er jedoch Bestand haben.
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