Des Blättchens 12. Jahrgang (XII), Berlin, 25. Mai 2009, Heft 11

Neokannibalismus

von Martin Nicklaus

Während weltweit täglich zigtausend Kinder an Unterernährung sterben, die Zahl der Hungernden, unter anderem, durch die vorletzte Volte der Finanzmärkte auf eine Milliarde anstieg, und, drei Nummern kleiner, während in Deutschland die Zahl verarmter Kinder auf 2,5 Millionen hochschnellte, Lebenshaltungskosten bei abhängig Beschäftigten Jahr um Jahr schneller steigen als Einkommen und Millionen kein Auskommen mehr sichem, Massenarbeitslosigkeit herrscht, stellen sich Bundespräsident und Kanzlerin hin und erklären als Grund für die Finanz/Wirtschaftsknse: »Wir« oder wahlweise, »die Welt habe(n) über unsere (ihre) Verhältnisse gelebt.«
Hierbei ist, wie Georg Schramm anmerkt, »egal, ob sie aus Taktik oder Dummheit solchen Unfug reden«.
Sie lenken von ihrer Mitschuld und von der Tatsache ab, daß gegen Ursachen und Verursacher der Krise nichts unternommen wird. Genau genommen stellt sie den Glücksfall für die »Neokannibalen« (Carl Amery) dar: Per Ermächtigungsgesetz schießen unkontrolliert, vorbei an jeder parlamentarischen Aufsicht, Milliarden in ein von – im besseren Fall unfähigen, wahrscheinlicher aber – kriminellen Managern verwüstetes Finanzsystem und sichern deren Einnahmen. Mögen Banken auch leiden, den Bankern geht es prächtig. Selbst bei einer Reduzierung des Einkommens auf 500 000 Euro läge das noch beim Dreizehnfachen des deutschen Durchschnittsverdienstes und beim rund Siebzigfachen einer anderen, vom Staat alimentierten, Bevölkerungsgruppe, den Hartz-IV-Empfängern.
Glaubt denn jemand ernsthaft an »Pech«, wenn just am Tag der Verkündung der Staatshilfe für die Hypo Real Estate (HRE) die Fünfjahresfrist, in der der Vorbesitzer Hypo Vereinsbank für Altlasten haftete, abgelaufen war? Erinnerungen an den Fall Zumwinkel werden wach, wo Tagesfrist ebenfalls eine Rolle spielte und ihn vor Haft bewahrte. Na gut, in Berliner Gefängnissen wäre kein Platz für ihn. Die sind von Schwarzfahrern bevölkert. Neokannibalismus in der Rechtssprechung: kleinlich bei Kleinigkeiten, großzügig bei Großdelikten – hier eine Kassiererin, die (angeblich!) Multimilliardäre um Groschen prellte und ins Unglück gestoßen wird, dort ein Schloßherr, der die Gemeinschaft um über eine Million Euro betrog, ein Taschengeld zahlt und anschließend zwanzig Millionen Pension kassiert.
Was kost‘ die Welt? Jetzt kauft der Staat Aktien der HRE von den durch den Markt enteigneten Besitzern für 1,39 Euro pro Stück, einige Prozent über dem Kurs – der überhaupt nur dank bisheriger Staatsintervention existiert und von dem Bundesbankpräsident Weber bereits bei 90 Cent meinte, er sei »dramatisch nach oben verzerrt«. Dieser Fall erinnert an das sagenhafte Geschäft mit der IKB. Erst zehn Milliarden reingebuttert, dann für 150 Millionen verkauft. Damit nicht genug, forderten die Ackemänner, von keinem Hauch eines Schuldbewußtseins angekränkelt, weiter die für sie ertragreichen »fields of gold« bestellend, endlich eine Bad Bank. Selbstverständlich bekommen sie die. Was das auf Bankenkuscheln eingestellte Kabinett beschloß, kommentierte Robert von Heusinger mit »Murcks«. Schon 2003 wollten die Finanzhaie eine Bad Bank von der Bundesregierung, wußten also frühzeitig, wo der Wahn hinführt, Schäume und Blasen (Finanzprodukte) kreditfinanziert zu erwerben und, hundertfach umverpackt, in einer Art Kettenbriefspiel, weiterzuverkaufen. Wahrscheinlich staunten sie, daß dieser esoterische Finanzhokuspokus nicht schon viel ehr aufflog.
Zurückgreifen können sie auf die spektakuläre Idee von Nick Leeson, der einst neben seinem Konto für glorreiche Gewinne, die ihn zum Heroen unter den Investmentbankern machte, eines für die exorbitanten Verluste einrichtete. Der Fehler seiner Konstruktion bestand nur darin, und das will man heute modifizieren, daß dieses Verlustkonto noch immer der Barings Bank gehörte. Die ging daran pleite. Nun übernahm, in letzter Konsequenz, der Steuerzahler dieses Schrottkonto.
Was gleichzeitig hilft, Kollateralschäden wie jene 353 von der Forbes-Liste der Milliardäre gestrichenen, fortan nur noch als lausige Multimillionäre vor sich hin vegetierenden Mitbürger zu vermeiden.
Kein Wunder, wenn Geld-Schaeffler oder Frau Klatten bei der Bundesregierung vorstellig werden, derartige Schmach von sich selbst abzuwenden. Doch während Schaefflers auf plumpe Erpressung mittels Arbeitsplatzabbau setzen, findet Frau Klatten mindestens bei der CDU immer offene Ohren, da sie die Partei mitfinanziert. Übrigens läßt sich auch die Finanzwirtschaft »Demokratie « einiges kosten und sponsert neben CDU SPD, Grüne und FDP. Traditionell bleibt DIE LINKE von derartigen Interventionen verschont.
Die Forbes-Liste meldet übrigens auch Zugänge – wie Joaquin Guzman Loera, dessen stark konservativ ausgerichtetes Geschäftsmodel die Grundversorgung der USA mit Kokain vorsieht. Ein schönes Beispiel für unsere Welt und ein Fingerzeig auf die, auch für die Finanzkrise geltende, kriminelle Komponente Reichtum. Alexander Gill beschreibt die Plünderung der Staatskassen in seinem Buch mit dem treffenden Titel »Der große Raubzug«. Ähnlich äußerte sich Rene Zeyer im Manager Magazin unter der Überschrift »Der größte Bankraub aller Zeiten«. Nur deckt in diesem Fall das neokannibale System aus unendlichem Bereicherungswillen, basierend auf der Herrschaft des Geldadels, den Raub.
Und unser einziges Mittel dagegen sollen Wahlen sein? Damit verjagt man Kannibalen? Na, sagen wir es mal mit Gomes Davila: »Wie kann der leben, der nicht auf Wunder hofft.« Weniger fatalistisch Eingestellte könnten allerdings in Robinson Crusoe ihr Vorbild finden.