Diesmal: „Berlin Karl-Marx-Platz“ – Gorki Theater / „Carmen darf nicht platzen“ – Kudamm-Komödie im Ernst-Reuter-Saal Reinickendorf
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Gorki: Vor den Absturz kommt das Himmelhoch
Berlin, nach dem Mauerfall: Lisa, ein Mädchen aus Marzahn, ostdeutsche Familie, Cem, ein Junge aus Neukölln, türkischstämmige Familie. Zwei Verliebte, und die Freiheit schien grenzenlos. Sie wollen ihre Himmel stürmen. Wollen ein Leben jenseits von Rollen, in die sie, von wem auch immer, gezwungen oder „hineinerwartet“. Lisa studiert Sängerin, Cem schreibt Kurzgeschichten. Eine Zukunft als Künstler leuchtet. Als radikale Künstler, natürlich. Also nie mehr brav sein, nie mehr angepasst. Niemandem gehorchen; unbeirrbar auf dem eigenen Weg.
Der große Auf- und Ausbruch! Doch dann die Abstürze, Überforderungen, die Mühen der Ebene; die Sorgen um das täglich Brot. Ein Kind kommt, die Liebe schleicht sich, Hoffnungen verfliegen. So geht das Leben. Am Ende sitzen alle in derselben billigen Kantine, ob in Marzahn oder Neukölln.
„Berlin Karl-Marx-Platz“ – was für eine Geschichte! Autor und Regisseur Hakan Savas Mican erzählt sie – ihre Kontraste, Konflikte, Intimitäten – konzentriert in knappen Szenen, kontrapunktiert durch eine Fülle wilder, wehmütiger Lieder – mitreißend und gleichermaßen herzberührend zwischen Klassik, Folklore, Rock und Pop (Komposition / Arrangement: Peter Neumann).
Das Bittersüße einer revueartigen Theatralik (Bühne: Alissa Kolbusch) ist das so Besondere, so Bewundernswerte der Kunst des Regieromantikers Mican. Die freilich nur wirklich gelingt durch ausdrucksstarke, stimmgewaltige Gorki-Stars wie Sesede Terziyan und Taner Sahintürk (in Nebenrollen: Anastasia Gubareva, Falilou Seck).
Zum Schluss fällt der selbstbewusste Satz, bezogen sowohl auf die migrantisch grundierte Story als auch auf die privat-familiären Hintergründe der Solisten sowie des dichtenden Regisseurs: „Ich habe dieses Land verändert, nicht umgekehrt.“
Wieder haben wir auf fesselnd unterhaltsame, auch überraschend offene Weise Einblicke bekommen in die uns teils noch immer unbekannte Vielfalt deutscher Lebensläufe. – Wie überhaupt oftmals durch die in der Regel packend dramatischen, virtuos spielerischen Produktionen des so genannten postmigrantischen Theaters, mit hohem ästhetischem Anspruch installiert vom Team um die rührige Direktorin Shermin Langhoff. Dafür unser Dank!
Im Sommer kommenden Jahres wechselt die Gorki-Intendanz. Unter der künftigen Führung von Cagla Ilk, die bislang als Kuratorin großer Aktionen der bildenden Kunst reüssierte, wird sich das Gorki-Profil ändern. Wir bleiben neugierig. Und hoffen das Beste.
Noch bis zum Saisonschluss 2026 sind auch die beiden so erfolgreichen, mit Preisen bedachten älteren Mican-Inszenierungen zu sehen: „Unser Deutschlandmärchen“ (Theaterberlin vom 3. Juni 2024 [1]) sowie „Vatermal“ (Theaterberlin vom 21. April 2025 [2]). Allesamt aufregende Feste des Theaters!
Zur Information: Hakan Savas Mican: 1978 geboren in Berlin, als „Kofferkind“ aufgewachsen bei Großeltern in der Türkei; 1997 zurück nach Berlin. Erst Studium der Architektur, dann der Regie (Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin). Inszenierungen an deutschen Staats- und Stadttheatern.
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Komödie Reinickendorf: Broadway tauglich
Alle sind da, bloß eine fehlt: Carmen. Doch ohne Elena Firenzi platzt das Jahrhundertereignis in der Cleveland-Oper. Ohne das sauteure Sensationsgastspiel des Superstars der Klassikwelt hier in der US-Provinz anno 1934 geht der Singsang-Tempel pleite. – Da brennt lichterloh die Luft im prachtvollen Backstage-Salon – die Luxus-Garderobe für die Diva aus Italien: Zwei Räume, sechs Türen, Kleiderkammer, Bad, King-Size-Bett mit Rokokospiegel und alles in süß Kuschelrosa (Bühne: Momme Röhrbein).
Dort terrorisiert die entnervte Intendantin (Marion Kracht), herrische Lady von Pumps bis Turmperücke, das Personal: Ihre Assistentin Jo (Mariyama Ebel), eine zittrige Nachwuchssängerin, die ihren Stimmbändern nicht traut; ihr Söhnchen Jerry (Yana Robin la Baume), eine klassische Operntunte, die quicke Hotelpagin Beverly (Mia Geese); dazu ein eitel dicklicher Tenor sowie die madamig glitzernde Vorsitzende des Opern-Freundeskreises (beide: Mackie Heilmann).
Die katastrophal anschwellende Verzweiflung treibt das illustre Kollektiv der Wartenden – wohin sonst! – ins wild wuchernde Chaos. Bis plötzlich doch noch die Königin aller Diven (Antje Rietz) hoheitsvoll auftaucht mit ihrem verlotterten Gemahl (Alessa Kordeck).
Doch die Firenzi, exzentrisch, zickig, dabei empfindsam, hat Sex- und Verdauungsprobleme, schluckt Schnaps, futtert Tabletten und verschwindet im Klo. Und danach im Bett. Eine letzte Ruhe vorm Auftritt. Doch leider, sie lässt sich nicht mehr aufwecken …
Da muss die vor Angst schlotternde Assistentin ran! Muss aus sich heraus, muss mutig sein. Und rettet – o Wunder! – bejubelt die Vorstellung. Inkognito im „Carmen“-Kostüm der pennenden Firenzi, die wiederum – Überraschung! – mittlerweile erwacht aus ihrem Tablettenkoma. Was die Backstage-Tollerei mit nunmehr doppelter Carmen, erotischen Wirrungen, kreischenden Tätlichkeiten sowie verbalem Rundumschießen auf die Spitze treibt.
„Carmen darf nicht platzen“ ist eine in den Aberwitz getriebene Fortschreibung des internationalen Komödienklassikers „Otello darf nicht platzen“ von Ken Ludwig. Was der erfahrungsreiche Erfolgsregisseur Pascal Breuer jetzt (bis 14. Dezember) auf die Bretter der Reinickendorfer Breitwandbühne wirft, ist, man darf es getrost vermelden, absolut Broadway-tauglich.
Da stimmen die Tempi, die Stimmungen, da passen die Pointen, da funktioniert klipp-klapp der Slapstick mit dem Raus-Rein zwischen den zahlreichen Türen. Und das exzellente Ensemble – sieben Frauen brillieren in acht Rollen – haut auf den Putz, dass es nur so spritzt.
Ja, Komödie, bei allem Allotria fein ziseliert. Ja, Klamotte, aber mit Charme und Eleganz bis in die Kostüme (Angelika Rieck). Und bei allem Klischee, bei aller Parodie: trefflich skizzierte Typen. Die stemmen, wenn es sein muss, auch Opernspitzentöne, imitieren perfekten Italo-Slang und beherrschen die rasenden Hick-Hack-Dialoge wie einst die Damen in Ufa-Schmonzetten. Großes Können in gut zwei Stunden. Beglückendes Unterhaltungstheater. Es staunt der Kopf, es hüpft das Herz.