In der Blättchen-Ausgabe 25/2023 war der Nachdruck eines Interviews aus dem Jahre 1966 enthalten, in dem der zweimalige Chefredakteur der Weltbühne, Hermann Budzislawski (1934 – 39 und 1966 – 71), unter anderem Auskunft über sein Exil in den USA gab, in Sonderheit zu seiner dortigen engen Zusammenarbeit mit Dorothy Thompson. Die 95. Wiederkehr des Geburtstages der großen bürgerlichen US-Publizistin im Jahre 1989 nahm die Weltbühne zum Anlass, sie ausführlich zu würdigen.
Die Redaktion
Am 9. Juli wäre sie 95 Jahre alt geworden, die amerikanische Journalistin Dorothy Thompson (1894-1961). Sie zählt zu den Großen der internationalen Publizistik. Ihrem Fleiß, ihrem Können, ihrem Engagement und ihrem beispielhaften Mut im Kampf gegen den Faschismus verdankte sie schon zu Lebzeiten einen legendären Ruf. Das Tragische dabei war indes, daß sie ihren Ruhm überlebte. Vielleicht sogar sich selbst. Auf jeden Fall verließ sie nach dem Tod von Präsident Roosevelt 1945 ihre kämpferische, kritische Position und distanzierte sich von Freunden und Gefährten, so von Hermann Budzislawski, der nach 1940 ihr politischer Berater und engster publizistischer Mitarbeiter war. Sie geriet in den Sog der antisowjetischen, antikommunistischen Truman-Politik.
Ihre hohe Zeit internationaler Popularität lag in den Jahren 1932 bis 1944. In den USA setzte man ihren Einfluß und ihr öffentliches Ansehen denen der First Lady, der Eleanor Roosevelt, gleich. Jenen aus rassischen und weltanschaulichen Gründen in Nazi-Deutschland Verfolgten, die in die USA emigrierten, war ihr Name nahezu ein Synonym für Hoffnung auf Unterkunft, Arbeit, Leben, ja Sieg über die Barbarei. Hatte sie doch großen persönlichen Anteil daran, daß und wie mancher Asyl-Suchende jenseits des großen Wassers Aufnahme fand, unter ihnen Hermann Kesten, Theodor Wolff, Alfred Neumann und Hanns Eisler, um nur einige zu nennen. In Memoiren, Skizzen und anderen Zeugnissen der Erinnerung ehemaliger Emigranten kann man hin und wieder von Dorothy Thompson lesen. Doch ihre Persönlichkeit blieb schemenhaft, unfaßbar.
Jürgen Scheberas Verdienst ist es, daß die Leistungen dieser gescheiten streitbaren Frau in unserem Land mehr ins Licht rückten. 1978 meldete er sich in der Reihe Literatur und Gesellschaft des Akademie-Verlages zu Wort mit der Arbeit „Hanns Eisler im USA-Exil“. Darin war zum erstenmal von der „einflußreichen progressiven Journalistin Dorothy Thompson“ zu lesen. Sie hatte 1938 eine Initiative ins Leben gerufen, die Hanns Eisler helfen sollte, ein ordentliches Visum für einen dauerhaften Aufenthalt in den USA zu erhalten. Der Autor nutzte auch die Gelegenheit, die Thompson als amerikanische Korrespondentin 1933 in Deutschland vorzustellen. Man erfuhr von ihrem Buch „I saw Hitler“ (1932), ihrem darin artikulierten Irrtum und von mancherlei brillanten, den Faschismus in geschliffener Sprache treffsicher attackierenden Artikeln. Man wurde neugierig auf ihre Arbeiten.
Im dritten Band der Reihe Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil, „Exil in den USA“, der 1979 bei Reclam erschien, war weiteres über Dorothy Thompson zu erfahren. Jürgen Schebera konnte hier verständlicherweise diese Frau aus einem weiter gefaßten Blickwinkel betrachten und dem Leser entsprechend näherbringen. Die Zitate aus Thompson-Texten belegten nicht nur die Aussagen des Autors, sondern machten noch begieriger auf ihre Texte überhaupt. Wir wollten nicht mehr nur Meinungen über sie, sondern Arbeiten von ihr selbst zur Kenntnis nehmen.
Zehn Jahre sind inzwischen vergangen, und Jürgen Schebera hat uns eine Auswahl ihrer antifaschistischen Publizistik von 1932 bis 1942 in einem Kiepenheuer-Band offeriert: „Kassandra spricht“. Die Tochter des Königs Priamos von Troja und der Hekabe ist, wie es scheint, literarisch wieder in Mode. Die Mythologie macht sich eben gut, Person oder Gegenstand zu erheben. Bekanntlich hat der verschmähte Zeus-Sohn Apollon der Kassandra zwar die Fähigkeit der Weissagung verliehen, sie aber mit dem Fluch versehen, daß ihr niemand glauben solle. Daß Dorothy Thompson sich selbst zeitweilig als ebendiese Unverstandene begriff und ihren Artikel vom 17. März 1939 mit „Kassandra spricht“ überschrieb, ist aus ihrer Sicht verständlich. Beweist sie doch darin, wie sie vor der Kriegsgefahr, die vom faschistischen Deutschland ausging, vergeblich warnte.
Doch für das ganze Buch scheint mir der Titel irreführend. Denn der Ruf dieser zielstrebigen, selbstbewußten Antifaschistin bürgerlicher Prägung wurde, wie man mehrfach lesen konnte, gehört. Ob in der „Saturday Evening Post“ (1934-1936) oder ab September 1936 in der „New York Herald Tribune“, wo sie bis 1941 dreimal wöchentlich eine Kolumne „Zu Protokoll gegeben“ hat. Ihre-Stimme hatte Gewicht in der amerikanischen Antihitlerbewegung. Und das wird niemand bestreiten wollen, der die klug ausgewählten Texte des Kiepenheuer-Bandes gelesen hat. Freilich muß man sich an den doch recht großzügigen und eigenwilligen Umgang mit politischen Begriffen erst gewöhnen. Bei der Lektüre ihrer Arbeiten gilt es schon, genau zu lesen, die Bedeutungsinhalte, die sie in die von ihr verwendeten Begriffe hineinlegte, herauszufinden, um nicht zu Fehlschlüssen zu gelangen. Das betrifft solche Begriffe wie Demokratie, Faschismus, Nazismus, Revolution und Revolutionierung der Welt, Intellektuelle und Mob (der Reichen wie der Armen).
Faszinierend ihre journalistische Methode: das kunstvolle Geflecht aus akribisch zusammengetragenem Faktenmaterial, logisch, sprachlich meisterhaft geboten; jeweils brillante Gebilde. Verblüffend indes ihre manchmal recht willkürlich anmutenden Schlüsse. Erstaunlich auch, daß sie – obwohl sie viele Auffassungen und Standpunkte gegeneinander abwägte – die kommunistischen kaum zur Kenntnis nahm. Zumindest hat man bei der vorliegenden Textauswahl diesen Eindruck, der die für die Thompson charakteristischsten Texte aus vier ihrer Bücher enthält („Ich sah Hitler“, „Flüchtlinge – Anarchie oder Organisation“, „Laßt das ,Protokoll‘ sprechen“ und „Hör zu, Hans!“).
Jürgen Schebera läßt den Leser nicht im unklaren darüber, warum er die eine oder andere Textstelle ausklammerte. So verzichtete er erklärtermaßen auf solche Arbeiten, „die sich (vorrangig) mit der innenpolitischen Entwicklung in den USA befassen“, und auf solche Passagen, die sich auf – in der Auswahl nicht enthaltene – Textstellen beziehen.
Der Leser* kennt also die Position des Herausgebers, die man respektieren muß. Schebera bietet mit seiner – noch dazu von ihm übersetzten – Auswahl genügend Material, das jedem aufmerksamen Leser Vorzüge und Nachteile der Thompsonschen Polemik deutlich macht. Sein umfangreicher Anmerkungsapparat hilft weitestgehend Mißverständnisse ausschließen. Nur die Informationen über erwähnte Personen sind meines Erachtens im Anmerkungsteil nicht sehr glücklich untergebracht. Für eine Nachauflage wäre, wegen der schnelleren Abrufbarkeit, ein gesondertes Personenregister zu überlegen.
Alles in allem – nicht zuletzt wegen der Einbeziehung von Zeitungsmeldungen – eine beredte, aus dem Scharfsinn einer bemerkenswerten Frau geborene Dokumentation zur Zeitgeschichte und eine Lektion über streitbaren Journalismus.
Weltbühne, 38/1989
Einige Ausgaben später – unter Antworten – folgende korrigierende Ergänzung:
Heinz Knobloch, Berlin. – Zu unserer Rezension „Eine scharfsinnige, mutige Publizistin“ (Wb 38/1989) teilen Sie uns mit: „Dorothy Thompson konnte den berühmten früheren Chefredakteur des „Berliner Tageblatts“, Theodor Wolff, leider nicht in die USA retten. Er geriet als Emigrant in Frankreich in die Hände der Gestapo, wurde in Konzentrationslager verschleppt und starb Ende 1943 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Sein Grab liegt auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee.“ – Recht herzlichen Dank für diese korrigierende Ergänzung.
Weltbühne, 41/1989
Die Schreibweise der Originale wurde beibehalten.
Ursula Eichelberger ist 2023 verstorben. Leider ist es der Redaktion nicht gelungen, mögliche Rechteinhaber an den Publikationen der Autorin ausfindig zu machen. Wir bitten daher darum, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.
Schlagwörter: Dorothy Thompson, Hermann Budzislawski, Ursula Eichelberger


