28. Jahrgang | Nummer 19 | 3. November 2025

Paul Gurk – verkannt, verarmt, vergessen

von Hermann-Peter Eberlein

Vom 18. Juli bis zum 2. November 2025 zeigte das Mitte-Museum in der Pankstraße im Berliner Gesundbrunnen eine kleine Ausstellung mit dem Titel „Flucht ins Innere. Der Künstler Paul Gurk in der NS-Diktatur“ – Anlass genug, sich diesem Mann auch über das Thema der Ausstellung hinaus zuzuwenden. Denn es gibt viel zu entdecken: einen Außenseiter, der sich keiner Richtung zuordnen lässt, ein verkanntes Multitalent, das verarmt starb, einen ungemein produktiven Künstler, der heute beinahe vergessen ist.

Die äußeren Daten zur Lebensgeschichte sind schnell genannt: Geboren am 26. April 1880 in Frankfurt an der Oder als Sohn eines Postillons, wächst Gurk nach dem frühen Tode des Vaters bei Verwandten in Berlin auf; er geht auf die Volksschule, wo man sein Talent zum Zeichnen entdeckt. Trotz hervorragender Leistungen erhält der Junge keine Freistelle für eine höhere Schule, da er nicht in Berlin geboren ist, und besucht stattdessen ein Lehrerseminar. Auch hier schließt er als einer der Besten seines Jahrgangs ab – aber aus der Lehrerkarriere wird nichts, weil seine Stimme zu schwach ist. So schlüpft Gurk im Jahre 1900 als Bürogehilfe beim Magistrat unter, wo er es bis zum Stadtobersekretär bringt. Im Jahre 1911 lernt er Erna Schallok kennen, die seine Lebensgefährtin und Muse wird: Er beginnt zu schreiben. Die eintönige Büroarbeit empfindet er im Rückblick als willkommenes Gegengewicht zur „Gewalt einer sonst vielleicht übermäßigen Kraft der Vorstellung und des Traumes“.

Die vielen Manuskripte und Notenhefte – Gurk komponiert auch – bleiben jedoch ungedruckt. Erst 1921 wendet sich das Blatt: Das Landestheater Braunschweig inszeniert sein Drama „Dina“, und auf Anregung des Dramatikers Julius Bab erhält Gurk im selben Jahr für seine unveröffentlichte Tragödie „Thomas Münzer“ den Kleist-Preis, die bedeutendste literarische Auszeichnung der Weimarer Republik. Nun geht es Schlag auf Schlag: Gurks Stücke werden aufgeführt, seine Prosaarbeiten gedruckt, Alfred Döblin schreibt eine Kritik. Auf Anregung von Thomas Mann bekommt Gurk 1924 für seine Erzählung „Meister Eckehart“ den renommierten Romanpreis der Kölnischen Zeitung.

Doch die kurze Zeit des Erfolgs ist schnell vorbei. Lesepublikum und Dramaturgen reagieren zunehmend zurückhaltend, die Inflation vernichtet die Honorare, Gurks Hausverlag geht bankrott. Der Künstler seinerseits komponiert und schreibt weiter. Im Jahre 1924 hat er sich in der Hoffnung auf steigende Honorare in den Wartestand versetzen lassen, um mehr Zeit für seine literarische Arbeit zu haben – eine fatale Entscheidung, wie sich bald zeigt. Stücke werden abgesetzt, Verlage halten sich bedeckt. Von 1923 bis 1925 schreibt er im Kaffeeraum bei Wertheim seinen Roman „Berlin. Ein Buch vom Sterben der Seele“, der erst 1934 erscheint und gleichrangig neben Döblins „Alexanderplatz“ steht, der zwar später entstanden ist, aber bereits 1929 gedruckt und zum Welterfolg wird. Gurk wohnt in einer kleinen, düsteren Hinterhof-Wohnung, kränkelt und wirkt stark gealtert.

Während der NS-Zeit zieht sich Gurk aus dem öffentlichen Leben zurück. Er aquarelliert nun fast jeden Tag, hält Datum, Uhrzeit und sogar die Wetterlage penibel fest. Die kleinformatigen Darstellungen – oft Motive aus den Rehbergen und ihren Laubenkolonien – wirken wie ein Rückzug ins Private: ein Tagebuch gleichsam im Medium der Malerei, bei dem alles Politische ausgeschlossen ist. Gurk pflegt seine Lebensgefährtin, die an Multipler Sklerose leidet und schließlich 1943 stirbt.

Weil sein Wohnhaus in der Melchiorstraße abgerissen werden soll, zieht Gurk 1936 in die Wohnsiedlung Eintracht im Afrikanischen Viertel. Im August 1943 wird der Künstler wegen des Bombenkrieges nach Neinstedt im Harz evakuiert; dort wohnen die Eltern seiner Nachbarin, die sich in seinen letzten Lebensjahren um ihn kümmert, ihn versorgt, seine Manuskripte abtippt und gemeinsam mit ihrem Mann später seinen Nachlass verwalten wird.

Gurks Verhältnis zum Nationalsozialismus ist ambivalent. Er arbeitet und kann veröffentlichen. Er tritt aus dem PEN aus und distanziert sich von Julius Bab. Fortschrittszweifel und eine antibürgerliche Grundhaltung verbinden ihn wohl mit den neuen Machthabern. Andererseits liest sich sein „Goya“ von 1942 wie eine Parabel über das Überleben in einem Unrechtsregime; die drastischen Kriegsschilderungen hätten dem Autor gut und gerne eine Anklage wegen Wehrkraftzersetzung einbringen können. In seiner Dystopie „Tuzub 37“ – einem der besten Science-fiction-Romane der Zeit – beschreibt Gurk Massenversammlungen, bei denen sogenannte Maschinenmenschen den Hitlergruß zu parodieren scheinen. Sein Kriminalroman „Tresoreinbruch“ von 1935 wird verboten, da er zu viel Verständnis für die Räuber zeigt; für einen Roman über Metternich („Der alte Fürst“, 1942) wird ihm die Papierzuteilung verweigert. „Die Diskrepanz zwischen der Haltung des Autors,“ so haben es die Ausstellungsmacher zusammengefasst, „der sich mit dem NS-Regime arrangierte, und der Botschaft seiner Werke, die den Wert der Freiheit betonen, bleibt ungelöst.“ Das gilt wohl für die gesamte sogenannte „Innere Emigration“.

Nach dem Krieg bekommt Gurk immerhin eine kleine Unterstützung, um in seine Wohnung in Berlin zurückkehren zu können, und wird in eine bessere Ernährungsgruppe eingestuft. Dennoch bleibt seine Lage prekär. Die Zahlung einer Pension wird ihm verweigert, weil erforderliche Papiere verbrannt sind oder sich im Ostsektor Berlins befinden. Seine Manuskripte liegen ungedruckt bei den Verlegern, nur weniges kann erscheinen.

Gurk verbittert und verrennt sich in Ressentiments. Anschluss an literarische Kreise findet er nicht mehr. Zu spät, im April 1953, wählt ihn schließlich das Deutsche PEN-Zentrum zu seinem Mitglied; etwa zeitgleich wird ihm endlich doch eine Pension gewährt. Aber schon vier Monate später, am 12. August 1953, stirbt er. Nur ganz wenige kommen zu seiner Beerdigung auf dem Dom-Friedhof II in der Müllerstraße.

„Ich will ein völliges Verschwinden und keine Wiederkehr in irgendeiner Form.“ Dieser Wunsch, wohl mehr aus Groll denn aus Demut geboren, ging nur teilweise in Erfüllung. Gurks Nachlass ist gerettet; er findet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach, in der Akademie der Künste, in der Berlinischen Galerie und im Mitte-Museum. Von seinem literarischen Werk – darunter fünfzig Romanen, vierzig Dramen, vielen Fabeln und Gedichte –, harren die meisten noch ihrer Veröffentlichung. Doch es gab eine, wenn auch verhaltene, Rezeption: Einige kleine Verlage gaben Erzählungen heraus; die wichtigsten Romane („Berlin“, „Tresoreinbruch“, „Tuzub 37“) wurden neu aufgelegt. Derzeit arbeitet der Wuppertaler Arco-Verlag an einer Werkausgabe in fünfzehn Bänden. 1958 und 1970 gab es in Berlin Ausstellungen seiner Aquarelle; dabei wurden auch Kompositionen des Künstlers aufgeführt.

An Gurks letztem Wohnhaus in der Afrikanischen Straße 144b erinnert seit 1970 eine Gedenktafel an ihn; sein Grab war immerhin bis 2009 (warum nicht länger?) Ehrengrab der Stadt Berlin. In einigen Lexika wird er genannt, der Kritiker Paul Fechter hat über ihn geschrieben und ich verdanke viele Details zu seinem Leben der kleinen Schrift von Elisabeth Emter über Gurk, die sie 1995 als Heft 15 der Frankfurter Buntbücher veröffentlicht hat.