28. Jahrgang | Nummer 15 | 8. September 202

Kleist und die Bedrohungslüge

von Gerhard Kade (Westberlin)

Zögernd nur und schon deshalb mit dem gebotenen zeitlichen Abstand, gleichzeitig aber mit gebührendem Respekt vor der Gelehrsamkeit, die die ausgewiesenen Kleist-Forscher anläßlich des 175. Todestages ausbreiteten – ob in Frankfurt/Oder, in Westberlin oder anderswo – möchte ich auf einen Text des Dichters aufmerksam machen, der von überraschender Aktualität ist, der belegt, daß die Produktion von Feindbildern und Bedrohungslegenden eine lange Tradition hat und daß manche Grundmuster, nach denen dabei verfahren wird, geprägt wurden lange vor der Epoche der Ost-West-Konfrontation.

Gemeint ist Kleists „Lehrbuch der französischen Journalistik“, einer der Texte, die der politische Publizist Heinrich von Kleist für die von ihm geplante Zeitschrift „Germania“ im Jahre1809 im Prager Exil verfaßte. (Der Friedensschluß von Wien am 14. Oktober 1809 besiegelte die Kapitulation Österreichs; damit waren Verhältnisse geschaffen, in denen die Chancen für das Erscheinen eines patriotischen, antinapoleonischen Wochenblattes endgültig zunichte wurden.)

Ähnlich wie bei dem Stilmittel des „Katechismus“[1] faßt Kleist sein Thema – „das Lügensystem der damaligen französischen Zeitungsblätter“, wie Ludwig Tieck in der Vorrede zu „Heinrich von Kleists hinterlassenen Schriften“ (1821) bemerkt – in die Form von Lehrsätzen, Anmerkungen und Paragraphen.

In § 2 des „Lehrbuches“ heißt es: „Die französische Journalistik ist die Kunst, das Volk glauben zu machen, was die Regierung für gut findet.“ Kleist verweist auf den bewußten Einsatz von Verdrehungen, Entstellungen und von Lügenmärchen in den staatstrageden Gazetten zum Zwecke der Rechtfertigung und Durchsetzung politischer Ziele. Daß es sich dabei vor allem auch um die Produktion von Feindbildern mit Hilfe von entsprechenden Bedrohungslegenden handelte, macht schon ein flüchtiger Blick in die Ausgaben der genannten Zeitungen deutlich, die Kleist beim Abfassen seines „Lehrbuches“ wohl vor Augen hatte. Gerade für Napoleons Überfall auf Rußland mußte damals schon eine eigens produzierte Legende von der „Gefahr aus dem Osten“ herhalten, die in den […] Zeitungen systematisch entwickelt wurde, darüber hinaus aber auch mit gefälschten Dokumenten, so zum Beispiel einem angeblichen Testament Peters des Großen, in dem alle Nachfolger des russischen Zaren zur „Unterjochung Europas und der ganzen Welt“ aufgerufen werden, gestützt wurde.

Vor 50 Jahren wurde das „Lehrbuch der französischen Journalistik“ aus gegebenem Anlaß abgedruckt – nicht etwa, um auf damaligen Eigenheiten der französischen Presse aufmerksam machen. Der Text erschien unter der Rubrik „Unser Kulturerbe“ – seit Beginn eine ständige Einrichtung der von Brecht, Feuchtwanger und Bredel herausgegebenen antifaschistischen literarischen Monatsschrift DAS WORT (Heft 5, Nov. 1936) –, und zwar mit der treffenden Überschrift „Exerzierreglement für gleichgeschaltete Gazetten“. Es lohnt sich, heute die Begründung für den Abdruck nachzulesen: „Der Schlag, den er (Kleist) führte, galt den gleichen Erscheinungen, die wir heute im Machtbereich des Goebelsschen Propagandaministeriums und seiner Reichspressekammer finden … In dem folgenden Aufsatz von Kleist ersetze der Leser die französischen Namen durch die ihnen entsprechenden deutschen dergestalt, daß er statt Talleyrand Goebbels, statt ,Moniteur’ etwa ,Völkischer Beobachter’, statt ‚Journal de l’Empire‘ vielleicht ‚Frankfurter Zeitung‘ und statt ‚Journal de Paris‘ nach BeIieben ,Berliner Tageblatt‘ oder ,DAZ‘ liest, wobei er allerdings die seit 1809 erzielten Fortschritte der Lügentechnik berücksichtigen möge.“

Dichter-Jubiläen sind nicht nur Anlässe, um neue Forschungsergebnisse zu präsentieren. Dort, wo es sich um Personen handelt, die in der fortschrittlichen Tradition des Kulturerbes ihren Platz haben, steht auch immer die Frage nach der Aktualität des Werkes auf der Tagesordnung. Als ich vor fast zehn Jahren daranging, ein Buch über die „Bedrohungslüge“ vorzubereiten (DDR-Ausgabe 1982 im Akademie-Verlag erschienen), habe ich in der Einleitung nicht zufällig aus dem Kleistschen „Lehrbuch“ zitiert. Wenn anläßlich des 175. Todestages von Heinrich von Kleist gerade auf diesen Text aufmerksam gemacht wird, so deshalb, weil in der weltweiten Auseinandersetzung um Abrüstung, Sicherung des Friedens, letztlich um den Fortbestand unseres Planeten die Medien der kapitalistischen Länder bei der Verbreitung von Falschmeldungen, Verdrehungen, bei der Unterdrückung von Informationen und bei der systematischen Entwicklung ganzer Desinformations-Kampagnen eine immer gewichtigere Rolle spielen. Kleists „Lehrbuch“ kann uns heute ein wichtiger Wegweiser in der Auseinandersetzung mit „Nachrüstungs“-, „Überlegenheits“- und Bedrohungs“-Legenden sein und gute Dienste bei der Entschleierung der Legenden vom Nutzen der Sternenkriege leisten.

 

Weltbühne, 48/1986

Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.

 

Leider ist es der Redaktion nicht gelungen, mögliche Inhaber der Rechte an den Publikationen von Gerhard Kade ausfindig zu machen. Wir bitten daher darum, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.

 

[1] – „Katechismus der Deutschen abgefaßt nach dem Spanischen für Kinder und Alte“ (ebenfalls für die „Germania“ geschrieben).