28. Jahrgang | Nummer 15 | 8. September 202

„links-rechts“ und die Qual der Orientierung

von Michael Geiger

Ein Leben ohne Navigationssystem ist nicht nur für die jüngere Generation kaum noch vorstellbar. Laut KI wird geschätzt, dass heute allein 60 bis 80 Prozent der Autofahrer darauf zurückgreifen. Das ist nur eine Form des aktiven Gebrauchs. Dazu kommt die „passive“ Nutzung einer Vielzahl von Serviceleistungen, die nur möglich sind, da sie ebenfalls auf der Nutzung geostrategischer Datenortung beruhen, wie ein Großteil der öffentlichen Mobilität oder die Ortung privater „mobiler Endgeräte“.

In dem Maße, wie die technologische Standortbestimmung verfeinert und immer umfassender wird, in dem Maße scheint die Bereitschaft zu sinken, dies im politischen Raum leisten zu wollen, oder eben auch zu können. Immer häufiger wird im Kreis gebildeter und am politischen Leben interessierter Menschen die Äußerung laut, dass sich das „links-rechts“ Schema erledigt habe. Das bekannte politische Koordinatensystem sei zu holzschnittartig, um die sich wechselnden und sich überlagernden Realitäten noch abbilden zu können.

Interessant ist, dass diese Stimmen eher aus dem linken Spektrum zu vernehmen sind. Nur scheinbar gegenläufig ist die Tendenz des inflationsartigen Gebrauchs von politischen Attributen, wie „links“, „konservativ“, „faschistisch“, „autoritär“, „demokratisch“, „humanistisch“, „aggressiv“, „liberal“, „grün“, „toxisch“ et cetera. Dass „Alles“ und „Jeder“ mit einem Etikett versehen wird, ist zwar Ausdruck des tiefen Bedürfnisses nach „Zu-Ordnung“, stiftet aber in der Realität noch mehr Verwirrung und fördert den Eindruck von der Überforderung tradierter Koordinatensysteme. Die Entleerung der Begriffe – die Beliebigkeit und Willkürlichkeit ihres Gebrauchs – ist gleichermaßen ein Ausdruck von intellektueller Unbedarftheit und Unfähigkeit, aber zugleich auch eine absichtsvolle Vernebelungs-Taktik. Eine Menschenmasse ohne Orientierungs-Instrumente ist leichter manipulierbar.

Wer würde auf die Idee kommen, auf einen Kompass zu verzichten, nur weil das Kalibrieren Schwierigkeiten bereitet? Diejenigen, die das tun, laufen Gefahr, sich im Kreis zu bewegen. Mit gutem Willen, solidarischem Gemeinsinn und Aktionismus allein kann aber keine Richtung gehalten werden.

Das Grundprinzip des Kompasses wurde in China in etwa zu Beginn unserer heutigen Zeitrechnung erfunden. Die früheste Form war der „Südweiser“, ein Magnetstein, der, an einem Faden aufgehangen, die Richtung nach Süden zeigte.

Was haben der Kompass und das heutigen Navigationssystem gemeinsam? Beide beruhen darauf, dass sie klar definierte Referenzpunkte haben. Der Kompass bedient sich des Nordpols und das Navigationssystem der Längen- und Breitengrade. Ohne Bestimmung des Äquators und des Nullmeridians (Greenwich) also keine Positionsbestimmung. Und ohne Positionsbestimmung wiederum keine Seefahrt und vieles mehr. Erst die Klar-und Einfachheit der Ausrichtung der Magnetnadel, ermöglicht die 360-Grad-Differenzierung am Kompass.

Warum soll nun die seit etwa 250 Jahren existierende „links-rechts“-Einordnung politischer Kräfte aufgegeben werden? Das hat offensichtlich damit zu tun, dass das bisherige politische Koordinatensystem droht, zusammenzubrechen, weil der politische Teil der Gesellschaft seine Begriffe verloren hat. Erst brach der Weltsozialismus zusammen, nun scheint – mit dem wiederholten Wahlsieg Trumps und der „Zeitenwende“ – auch das neoliberale Weltbild zu kippen. Die Welt driftet aus den Fugen, die Mitte gerät in Panik und wird selbst extremistisch, die unteren Schichten machen mobil, kämpfen nur noch um ihren Anteil am „Kuchen“, und die Oberen sichern mit immer kurzfristigeren Ideen und autoritären Mitteln ihre Macht ab. Verwirrt sind alle gleichermaßen. Damit stellt sich die reelle Frage, ob in dieser Situation der „Umwertung aller Werte“ es noch geboten scheint, die „links-rechts“-Zuschreibungen aufrecht zu halten.

Das Aufkommen der Unterscheidung „links-rechts“ im politischen Sinne wird auf die ursprüngliche Sitzordnung in der Constituante, der verfassunggebenden Nationalversammlung von 1789 in Frankreich, zurückgeführt. Diejenigen, die die Verhältnisse ändern wollten, saßen links und diejenigen, die die alte Herrschaft bewahren wollten „rechts“.

Heute ist es vielleicht komplizierter, aber im Prinzip nicht anders.

Je komplexer die Welt, desto notwendiger ist der Gebrauch des „gesunden Menschenverstandes“, um den diversen Komplexitätsfallen zu entgehen. Die Koordinaten „links-rechts“ sind dabei erprobte Vereinfachungen für unser begrenztes Vermögen, rationell zu urteilen und sinnlich wahrzunehmen. Erst die klare Nord-Süd Ausrichtung und ihre Vereinfachung, dann die differenzierten 360 Grad am Kompass.

Ein wichtiger Punkt scheint zu sein, dass politische Standortbestimmungen – zur Rolle des Staates, zum Eigentum, zum Klimaschutz, oder der Geschlechterfrage – nie von nur einem Kriterium abhängig gemacht wurden. Folgewirkung auf Macht-und Systemfragen entfalten einzelne Positionen nämlich erst in Beziehung zum Ganzen. Es ist auch hier so, dass nicht der einzelne Baum über den Charakter des Waldes entscheidet. Die „links-rechts“-Verortung ist eine Bestimmung, die sich der Tendenz und der Präferenz nach auf den ganzen Wald bezieht. Anders ausgedrückt: Die Referenzpunkte sind „Kampfbegriffe“ und an Interesse gebunden, die unterschiedliche Sichten hervorbringen. Das jedoch erhöht die Notwendigkeit die Frage zu beantworten, „in welchem Wald befinde ich mich eigentlich“. Sich dieser Aufgabe zu stellen, kommen wir nicht umhin. Der Wald ist der Referenzpunkt und bildet die „Schublade“, nicht die Vielzahl der unterschiedlichen Bäume.
Das Verhältnis zum unterschiedlichen Gebrauch binärer Standortbestimmung politischer Positionen richtet sich sicherlich auch nach den psychologischen Präferenzen der Persönlichkeit. Dem Kern nach sind die Begriffe „links-rechts“ relativ vage Begriffe, das heißt Begriffsinhalte sowie Begriffsumfang sind nicht eineindeutig bestimmbar beziehungsweise erhalten ihre Präzision erst aus einer Vielzahl zu bestimmenden Kriterien. Gerade deshalb bieten vage Begriffe ein größeres Potential für Vereinfachungen, bieten Raum für Anpassungsfähigkeit und Flexibilität im Hinblick Änderungen.

Das ist aber nicht jedermanns Sache. „Erbsenzähler“ finden ihre Ruhe erst bei der dritten Stelle hinter dem Komma. Diese Charaktere opfern lieber das ganze Koordinatensystem, als sich auf vage Begriffe einzulassen. Auch für den, dem Autonomie wichtig ist, um sich alle Wege offen zu lassen, sich nicht festzulegen und wenn möglich seine Positionen nach Belieben ändern zu können, ist eine klare Zuordnung eher hinderlich. Für andere hingegen, bei denen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft Priorität hat, die die Vorzüge einheitlichen Handels zu schätzen wssen, die stellen sich bereitwilliger unter einem gemeinsamen „Dach“ auf.

Kann es sein, das diejenigen die eine Abkehr von der Dichotomie „links-rechts“ fordern, die immer komplexere Realität verwechseln mit den gestiegenen Anforderungen an das Kalibrieren der Orientierungshilfe? Die Logik der Argumentation müsste doch genau umgekehrt lauten: Je komplexer die Wirklichkeit, desto notwendiger ein Kompass.

Wenn heute die ganze Menschheit bedroht wird durch die Gefahr eines Weltbrandes, dem irreversiblen Verbrauch unserer natürlichen Ressourcen und der immer größeren Schere zwischen „arm-reich“, dann befindet sich das Weltsubjekt in einer Art „Schicksalsgemeinschaft“. Damit gewinnt der Kampf um die Erhaltung unserer Art und um eine artgerechte Gesellschaft eine „linke Verortung“, wohingegen all diejenigen, die wollen, das alles so weitergeht wie bisher, „rechts“ einzuordnen wären.

Damit hat sich am Grundsatz „links-rechts“ nichts geändert.

 

PS: Im Übrigen unterliegen wir möglicherweise dem klassischen Negativitätsbias, wenn wir annehmen, dass die politische Positionsbestimmung heute um so viel komplizierter sei als in der Vergangenheit. Nur ein Beispiel. Bei der Bestimmung, was „links“ auszeichne, wird im „Kommunistischen Manifest“ auf fünf Spielarten verwiesen, die nur dem Anschein nach der „sozialistischen Idee“ entsprachen. Die Zuschreibung, was „links“ ist, war also auch vor knapp 200 Jahren schon schwierig, und gerade deshalb wurde das Koordinatensystem nicht geopfert.