28. Jahrgang | Nummer 9 | 5. Mai 2025

Gemalte Tierwelt Ostafrikas

von Hans-Jörg Wilke

Im Jahre 1972 erschien im Urania Verlag „Die Tierwelt der Erde“ von Ulrich Sedlag (1923–2016), die schon drei Jahre später mit der vierten Auflage 155.000 Exemplare umfasste. Damals hielt auch ich als 14-jähriger eines dieser reich illustrierten Bücher in den Händen. Es war vor allem die Anschaulichkeit, die mich faszinierte. Ohne den Urheber der Illustrationen zu kennen, beeindruckten mich die 400 gemalten Bilder ungemein. Der zoogeographischen Gliederung des Textes folgend, wurde die Artenvielfalt der Wirbeltiere aller Kontinente wirkungsvoll ins Bild gesetzt. Was erklärte dieses eindrucksvolle Buch nicht alles schon allein durch seine Abbildungen: Die Schwimmleistungen von Flusspferd, Eisbär, Fischotter und Krokodil, die Vielfalt der australischen Beuteltiere, die Verbreitung von Tieren auf hohen Bergen und in tiefen Meeren, die Flugleistungen von Vögeln und Fledermäusen, die Mannigfaltigkeit der Halbaffen auf Madagaskar, die Fülle an farbenfrohen Papageien in den Tropen und vieles mehr.

Die Bebilderung dieser populären Tiergeographie, die bis 1981 acht Auflagen erlebte und auch in der Bundesrepublik Deutschland erschien, verdanken wir Reiner Zieger. Der seit 1969 freischaffende Künstler hatte die Fachschule für Angewandte Kunst in Berlin besucht. Zu seinen Lehrern gehörte der Grafiker und Illustrator Hans Baltzer (1900–1972). 1961 holte ihn Heinrich Dathe (1910–1991) als wissenschaftlichen Zeichner an die Zoologische Forschungsstelle der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Tierpark Friedrichsfelde. Mit unzähligen Zeichnungen für Tierpark-Führer, Schautafeln, Plakate, Postkarten und Briefmarken und Illustrationen für zig Naturbücher erlangte er große Popularität. Seine Bilder weckten Neugier, regten zum Nachdenken an und sind gerade deshalb bei vielen bis heute unvergessen.

Zur diesjährigen Leipziger Buchmesse legte der nun 85-jährige Künstler sein erstes eigenes Buch als Text- und Bildautor vor – einen Bildband über die Großtierwanderungen Ostafrikas, geschildert und dargestellt nach eigenen Erlebnissen, die er während mehrerer Reisen in verschiedene Länder des Kontinents notiert und skizziert hatte. Was Reiner Zieger hier als großes Finale seines beispiellosen Schaffens vorlegt, beeindruckt nicht nur durch die lebensnahen Aquarelle. Es sind die authentischen Beschreibungen vieler Eindrücke und Betrachtungen, die von einer scharfen Beobachtungsgabe und großen Aufgeschlossenheit gegenüber der Natur zeugen. Die vielen Szenen und Details, die unaufgeregt und trotzdem spannend geschildert werden, zeigen, dass hier jemand mit Leidenschaft und Erstaunen jede noch so kleine, scheinbar unbedeutende Begebenheit dokumentiert hat – mit Worten und mit dem Zeichenstift.

Die Originalschauplätze in der ostafrikanischen Savanne boten Anschauung im Übermaß, die Reiner Zieger statt mit dem Fotoapparat oder der Filmkamera in Skizzenbüchern festhielt. Resultat dieser heute immer seltener werdenden Herangehensweise sind die oft großformatigen Abbildungen seines Buches. Jede neue Doppelseite schildert ein weiteres Geschehen und zeigt typische Tiere inmitten der Landschaft umgeben von Artgenossen, Rivalen oder Fressfeinden.

Welch eine Lebendigkeit in der Darstellung springt uns nach jedem Umblättern ins Auge: Flüchtende Zebras, kämpfende Löwen, aufgeschreckte Perlhühner, sich paarende Leoparden, beutegreifende Krokodile, rivalisierende Antilopen, heranstürmende Wildhunde und fliehende Warzenschweine. Neben grazilen Gazellen begegnen wir schwerfälligen Flusspferden und imposanten Nashörnern und Elefanten. Und immer wieder den Gnus, die zu Tausenden in endlosen Herden ihrer Wege ziehen. Hier ist die afrikanische Tierwelt versammelt, nicht in der Darstellungsform eines Bestimmungsbuches, sondern in seiner ganzen Wildheit, Frische und Lebenskraft. Es sind die großen Tierwanderungen in der Serengeti und Masai Mara, die den Künstler faszinierten. Hier pulsiert das Leben, alles ist in Bewegung, kein Tier in der großen Schar der wandernden oder lauernden Vierbeiner erscheint statisch, alles ist im Aufbruch, in lärmender Unruhe, ganz einfach im Leben. Nur die geschickt in die Panoramen integrierten Porträts geben Gelegenheit, dem Individuum ganz nah zu sein.

In diesem großformatigen Buch hat Reiner Zieger sein ganzes Können und seine Individualität zur Anschauung gebracht. Er versteht es meisterhaft, einerseits artspezifische Details im Habitus und im Verhalten mit höchster Genauigkeit auszuführen, um anderseits mit schlagartig endender Farbigkeit und skizzenhaft auslaufender Linienführung eine zusätzliche Dynamik zu erzeugen. Die Integration von Bleistiftstudien oder der direkten Blick in seine Skizzenbücher betonen die Authentizität des Dargebotenen. Diese Form des künstlerischen Ausdrucks kam bei der Bebilderung der vielen Sachbücher oder bei der Gestaltung von Postkarten, Briefmarken und Plakaten weniger zum Tragen. Hier aber, in diesem Buch ließ der Illustrator bewusst seinen künstlerischen Ambitionen freien Lauf. Das Ergebnis dieser eigenständigen, ideenreichen und gerade deshalb gelungenen Darstellungsform sind Augenblicke höchster Anspannung und Dramatik, die zwar einen beobachteten Moment dokumentieren, jedoch über das Detail hinaus die ungestüme, kraftvolle Dynamik der weltweit größten Wanderung von Großsäugern erlebbar machen. Das Verweilen und eingehende Betrachten jeder noch so verborgenen Kleinigkeit in den Bildkompositionen offenbart nicht nur die Einmaligkeit, Wildheit und Schönheit dieser Tieransammlungen, sondern hinterlässt einen tiefen Eindruck. Mit diesem Bild-Text-Band legt Reiner Zieger ein in jeder Hinsicht lebensnahen Erlebnisbericht vor, der Neugier entfacht und Spannung erzeugt, um letztendlich aufzuklären und zu informieren.

Um all das zu bewerkstelligen, waren vom Autor und Illustrator – neben Entdeckerfreude und Beobachtungsgabe – Geduld und Ausdauer sowie Beharrlichkeit und Fitness erforderlich, vor allem aber künstlerisches Können, das über die Jahrzehnte gewachsen ist und hier in Vollendung erscheint. Es ist dem Künstler gelungen, seinem großen Vorbild Wilhelm Kuhnert (1865–1926) möglichst nahe zu kommen, der als erster deutscher Tiermaler im ausgehenden 19. Jahrhundert begann, die natürlichen Lebensräume seiner Modelle zu bereisen und die afrikanische Tierwelt lebensecht zu dokumentieren.

Es wird gewiss nicht der letzte Pinselstrich des Altmeisters unter den Tierillustratoren der Gegenwart sein. Wer Reiner Zieger kennt, ahnt, dass er es einfach nicht lassen kann, obwohl er bereits mehr als fünfzig Tierbücher allein für DDR-Verlage illustrierte und für große Sammelwerke zur Tierwelt eine Fülle von Abbildungen lieferte. Sein künstlerisches Schaffen hat Generationen in Ost und West geprägt. Was uns Reiner Zieger aber nun zur afrikanischen Tierwelt präsentiert, setzt dem Ganzen die Krone auf. Er ist einer der bedeutendsten deutschen Tiermaler der Gegenwart. Ich empfinde sein Buch als großes Geschenk, für das ich dem Urheber herzlich danke.

Einen Blick ins besprochene Buch ermöglicht dieser Link.

Reiner Zieger: Endlos ziehende Herden – Ein Tiermaler in Ostafrika, Verlag Natur+Text, Rangsdorf 2025, 168 Seiten, 71,20 Euro zur Subskription bis 25. Juni 2025, danach 89,00 Euro.

Hans-Jörg Wilke ist Autor einer umfassenden Monografie über die Geschichte der Tierillustration in Deutschland. Der Pädagoge arbeitete über 30 Jahre im Nationalpark Unteres Odertal und lebt heute in Ueckermünde.