Vor fünfzig Jahren (genau genommen am 4. November 1975) veröffentlichte die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memorandum-Gruppe) ihr erstes Memorandum. Die Gründer Jörg Huffschmid, Herbert Schui und Rudolf Hickel, damals junge Hochschullehrer an der Universität Bremen, wollten den herrschenden, zunehmend vom Monetarismus und Neoliberalismus geprägten Wirtschaftskonzepten eine progressive, arbeitnehmerorientierte Alternative entgegensetzen. Die bis dahin dominante Richtung der neoklassischen Synthese, eine Mischung aus Keynesianismus und Neoklassik, war in der Krise von 1973 bis 1975 und angesichts des Zusammenbruchs des Bretton-Woods-Systems wirtschaftspolitisch gescheitert. Helmut Schmidt, seit 1974 Bundeskanzler („Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“) hatte mit seiner Parole „die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“, eine den Profit priorisierende Marschrichtung vorgegeben, eine Richtung, die zunehmend auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinen jährlichen Gutachten vertrat.
Die Memoranden der Bremer Gruppe sollten eine Gegenposition dazu markieren und erschienen ab 1977 dann jedes Jahr zum 1. Mai. Die anfangs relativ kurzen Papiere wurden durch Bücher mit unterschiedlichen Schwerpunkten abgelöst. Gelegentlich wurden Sondermemoranden zu aktuell diskutierten Fragen erstellt und eine Zeit lang gab es ein Zirkular. Seit vielen Jahren veranstaltet die Gruppe in Kooperation mit den ver.di-Bildungsträgern mehrtägige Sommerschulen. Kurzfassungen des Memorandums werden von zwischen fünf- bis achthundert Unterstützern aus der ganzen Republik unterzeichnet und inzwischen können die Forschungsergebnisse auch von den herrschenden Medien nicht mehr gänzlich ignoriert werden.
Unter „alternativ“ kann alles Mögliche verstanden werden. Die Memo-Gruppe versteht darunter eine dezidiert arbeitnehmerorientierte Politik, die sich nicht zuerst an Profitinteressen, sondern am Gemeinwohl orientiert; sie ist alternativ zur herrschenden, an den Kapital-Interessen orientierten Politik. Dazu gehören die Sicherung sinnvoller Arbeitsplätze, die Verbesserung des Lebensstandards, der Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit für die Arbeitnehmer und eine wirksame Umweltsicherung. Wirtschaftspolitische Konstanten der vergangenen Jahrzehnte sind die Forderung nach einer Lohnentwicklung, die mit Inflation und Produktivitätssteigerung Schritt hält und eventuelle Einbußen wieder ausgleicht, die Steigerung der öffentlichen Investitionen für Infrastruktur und Daseinsfürsorge, gegebenenfalls auch mittels Kreditfinanzierung, eine Erhöhung der Kapitalbesteuerung, der Spitzensteuersätze, die Wiedereinführung der Vermögensteuer sowie die Zurückweisung der Schuldenbremse.
Die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie steht immer wieder erneut im Focus. So lautet der Titel des diesjährigen Memorandums „Mehr Demokratie – Weniger Kapitalmacht!“. Eine Konstante ist auch die kritische Kommentierung und Auseinandersetzung mit jenen ökonomischen Theorien und Konzepten, die das Gemeinwohl den Interessen von Profit- und Privatwirtschaft unterordnen. Die Memo-Gruppe verfolgt – obwohl dieser Begriff in den Selbstdarstellungen nicht auftaucht – eine links-orientierte Agenda, und sie wird, ganz abgesehen von den eindeutigen Bekenntnissen einzelner ihrer Protagonisten, auch in der Öffentlichkeit so eingeordnet. Die Frage einer Systemalternative zum Kapitalismus lauert zwar manchmal im Hintergrund, wird aber explizit nicht aufgeworfen. Dies ist vielleicht auch ein Grund für die Stabilität der Gruppe und die breite Zustimmung verschiedenster linker und arbeitnehmerorientierter Strömungen.
Auch wenn die theoretischen Grundlagen selten erörtert werden, machen viele Vertreter der Gruppe kein Hehl daraus, dass sie dem Links-Keynesianismus nahestehen. Allerdings werden die Memoranden implizit und explizit auch durch marxistische Anschauungen gespeist; in den Mainstream-Medien werden die Protagonisten umstandslos meist als marxistisch bezeichnet. Für den bekanntesten Vertreter der Gruppe, Rudolf Hickel, ist Marx „genial“; er habe mit vielen seiner Ausführungen „unheimlich recht“ behalten.
Wenn die Marxsche Politische Ökonomie den Memoranden nicht vorbehaltlos zugrunde liegt, so liegt das, abgesehen von den Wandlungen des Kapitalismus und der völlig neuen Rolle staatlicher Wirtschaftspolitik seit Marx‘ Zeiten, zu einem Gutteil an Marx und Engels selbst. Ihre Kritik richtete sich gegen den Kapitalismus als System, ihr Ziel war dessen Beseitigung. Die tagespolitischen Forderungen der Arbeiter zur Verbesserung ihrer Lage waren für sie zwar wichtig, aber sie traten doch hinter der, ihrer Meinung nach unmittelbar bevorstehenden, revolutionären Überwindung des Kapitalismus zurück.
Symptomatisch dafür sind Äußerungen von Engels zur Wohnungsfrage, wonach sich die Arbeiter für die Probleme von Kredit und Zins, von Staatsschulden und Steuern nur wenig interessieren würden. „Alle diese Punkte, die uns […] als hochwichtige Fragen für die Arbeiterklasse vorgehalten werden, haben in Wirklichkeit wesentliches Interesse nur für den Bourgeois und noch mehr für den Kleinbürger …“ schrieb er. Bestimmte Überlegungen dazu verhöhnte er als „soziale Quaksalberei“, „Flickschusterei“, „kleinbürgerlicher Bourgeoisiesozialismus“. Die Lösung der „Wohnungsfrage“ könne letztlich nur mit der Abschaffung des Kapitalismus erreicht werden.
So kann es nicht verwundern, wenn die Memo-Wissenschaftler nach Theorieschulen Ausblick hielten, die versuchen, zeitgemäße und unmittelbar wirksame Antworten auf solche Fragen im Interesse der Arbeiter zu geben. Solche Grundlagen fand die Gruppe schon früh im Links-Keynesianismus, wie er von Joan Robinson, Nicholas Kaldor oder Michał Kalecki begründet wurde. Zwar betrachtete auch Keynes selbst die Fragen von Beschäftigung und Verteilung als zentrale Fragen der Wirtschaftspolitik, aber seine Kritik an der Neoklassik blieb halbherzig und von der Verteidigung der Arbeitnehmerinteressen kann bei ihm keine Rede sein. Selbst der „Rüstungskeynesianismus“ der Nachkriegszeit konnte mit seiner Theorie begründet werden, ein in den Augen der Links-Keynesianer völlig inakzeptabler Politikansatz.
Im Andocken an den Links-Keynesianismus sehen die Memo-Experten auch nicht unbedingt einen Widerspruch zum Marxismus, weil es heute um Fragen gehe, die von Marx und Engels nicht bearbeitet wurden oder nicht bearbeitet werden konnten. Auch ausgewiesene und prominente Marxisten hält dieses keineswegs widerspruchsfreie Changieren zwischen verschiedenen theoretischen Ansätzen nicht von einer Unterstützung der Stellungnahmen der Memo-Gruppe ab.
Das diesjährige Memorandum nimmt erneut zu einem breiten Spektrum an sozialen Fragen Stellung. Deutschland wird als eine „entwickelte kapitalistische Klassengesellschaft“ bezeichnet, in der die jeweilige soziale Lage von der Stellung „im System der Eigentums-, Produktions- und Erwerbsverhältnisse“ bestimmt ist. Von diesem Ausgangspunkt aus wird der Kampf um Arbeitszeitverkürzung und „Gute Arbeit“, zur Verbesserung des Gesundheits- und Pflegesystems und für eine Reform des Rentensystems erörtert. Die Memo-Gruppe stellt zum wiederholten Mal ihr Konzept einer auf soziale Stabilität und nachhaltiges Wirtschaften gerichteten Steuer- und Finanzpolitik vor. Obwohl im Memorandum seit langem gefordert wird, zur „goldenen Regel“ der Staatsverschuldung (der prinzipiellen Möglichkeit, öffentliche Investitionen mit Krediten auch ohne die jetzt beschlossenen Sondervermögen zu finanzieren) zurückzukehren, wird die „Finanzierbarkeit des Staates mit einem gerechten Steuersystem“ betont.
Ein Kapitel ist dem jüngsten Bericht „Earth4All Deutschland“ des Club of Rome und des Wuppertal Instituts gewidmet.
Ohne sich alle Aussagen dieses Berichts zu eigen zu machen, wird die Vision eines „radikalen und umfassenden sozial-ökologischen Wandels in eine klimaneutrale, gerechtere und weit stärker auf Kreislaufwirtschaft fußende Gesellschaft“ positiv hervorgehoben. Diese Stoßrichtung eröffne auch die Möglichkeit für „neue und breitere Allianzen von Gewerkschafts- und Ökologiebewegung“. Mit den Forderungen des Club-of-Rome-Berichts „die Demokratisierung der Wirtschaft“ voranzubringen und immer wieder die die Frage der „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ aufzuwerfen, gehen die Autoren und Unterstützer des Memorandums in einem hohen Maße konform.
Die von der abgewählten Ampel-Regierung ausgerufene „Zeitenwende“ und das Programm der neuen Regierung lassen erkennen, wie notwendig die Arbeit der Memo-Gruppe bleibt. Zu ihrem Geburtstag seien ihr ein langer Atem, immer wieder neue Mitstreiter und die ihr gebührende öffentliche Aufmerksamkeit gewünscht.
Schlagwörter: alternativ, Jürgen Leibiger Wirtschaftspolitik, Memo-Gruppe, Memorandum