Diese rhetorische Frage wird gelegentlich gestellt. So etwa im Oktober vergangenen Jahres im Berliner Kino Babylon, als die Tageszeitung junge Welt an die Gründung der DDR vor 75 Jahren erinnerte. Unter den anwesenden Bildreportern war auch Daniel Biskup aus Augsburg. Drei Motive von dieser Veranstaltung finden sich in einem voluminösen Bildband, der jetzt erschienen ist. 288 Seiten dick, über zwei Kilo schwer, betitelt: „Spuren“.
Nun sind in der Vergangenheit schon einige Bildbände mit ähnlichem Thema über den Osten erschienen, neudeutsch meist „Lost Places“ tituliert – wahrscheinlich um den Verdacht zu umgehen, es handele sich um einen Ausfluss von Nostalgie. Der Begriff und was darunter verstanden wird, ist belastet und verbrannt: Wir schauen doch alle nach vorn und optimistisch in die Zukunft. Wer sich der Vergangenheit versichert, ist ein Ewiggestriger, mit dem kein gegenwärtiger Staat zu machen ist.
Biskup ficht das nicht an, der gebürtige Bonner benutzt selbstbewusst einen deutschen Begriff für die von ihm in einhundertzwanzig Orten aufgespürten Hinterlassenschaften, die an den untergegangenen Staat erinnern. Straßenschilder und Schriftzüge, Wartehäuschen und Plattenbauten, verblasste Losungen und alte Werbezeichnungen. Manchmal fällt auf, dass die Farbe ziemlich frisch ist. An einer renovierten Hausfassade in Zeitz wirbt der VEB ZEMAG – ein Kombinatsbetrieb von TAKRAF – für die von ihm produzierten Kräne, die in vier Kontinente exportiert werden. Oder in Storkow sind die Signets von verschiedenen volkseigenen Betrieben und Produktionsgenossenschaften des Handwerks und der Binnenfischer an einem Hausgiebel verewigt. Die wurden dort aufgetragen, als Storkow 1984 seinen 750. Geburtstag feierte. Und als man nun das Haus renovierte, malte man die Schriftzeichen und Logos neu. Obgleich es die Firmen nicht mehr gibt. Ihre Namen wirken wie Anker und Haltetaue in einer Welt, in der es drunter und drüber geht. Es handelt sich augenscheinlich um mehr als nur um eine Erinnerung an vergangene Tage. Eine Lokalredakteurin aus Erfurt, die dem nur sparsam betexteten Band ein Nachwort beigefügt hat, spricht darin weltläufig von „Ghost-Signs“, von Zeichen aus dem Jenseits.
Für mich sind die rund vierhundert Motive, die Biskup in vier Forscherjahren zusammentrug, im weitesten Sinne eine Bestandsaufnahme der deutschen Einheit. Es geht ihm nicht darum zu zeigen, dass noch die Schwalben aus Suhl über ostdeutsche Straßen fliegen und der unverwüstliche Robur aus Zittau verlässlich seine Dienste verrichtet. Der studierte Historiker und Politikwissenschaftler zeigt, dass die Menschen hier ihre eigene Geschichte hatten, die ihnen 1990 irgendwie genommen wurde. Sie ist aber nicht weg, sie scheint überall durch. Wohl wissend, dass sich im Westen, wo das Buch verlegt wurde, kaum ein Leser für eben diese Geschichte interessiert. Aber immerhin fand Biskup ausreichend Sponsoren in Bayern, die die Produktion dieses ungewöhnlichen Geschichtsbuches finanzierten. Nicht den engagierten Autor, der – wie bei solchen Projekten üblich – für lau unterwegs war. Um der Wahrheit aber die Ehre zu geben: Daniel Biskup kann sich seinen Idealismus auch leisten. Er gehört inzwischen zur ersten Reihe der deutschen Fotografen. Er hat die gekrönten Häupter dieser Welt porträtiert, Kanzler inklusive, seine Bilder hängen in Ausstellungen und Sammler erwerben großflächige Abzüge mit seiner Unterschrift. Das Titelbild seines Bildbandes gewiss auch. Nicht weil diese Mäzene und Sammler den untergegangenen Staat, dessen Emblem schemenhaft zu erkennen ist, besonders mochten, sondern vermutlich, weil die bröckelnde graue Farbe auf dem nackten Beton so morbide wirkt wie die ganze marode, kaputte Gegenwart.
Das aber ist nur Oberfläche, auch wenn die Bilderklärungen sehr solide und neutral sind. Der Gesslerhut wird einzig mit Mauer-Motiven und Knast-Bildern gegrüßt. Geschenkt. Richtig politisch wird es und damit geht es in die Tiefe, wenn leerstehende Plattenbauten und verrammelte Geschäfte ins Bild kommen, wenn mitgeteilt wird, dass sich die Einwohnerschaft einstiger Industriestädte wie Eisenhüttenstadt oder Lauchhammer seit 1990 halbiert hat, weil die jungen Menschen in den Westen gingen, gehen mussten, um Arbeit und Auskommen zu finden. Ja, auch Gelsenkirchen und Bremen geht es schlecht, aber die entvölkern sich darum nicht. Das Werkstor in Zittau, hinter dem einst der LO, also der LKW Robur, produziert wurde, ist nicht nur durch ein Eisengatter versperrt, sondern auch von Bäumen, die inzwischen bis ins dritte Geschoss reichen. Und aus den Fenstern ganz oben streben Birken zum Licht. Die Natur kehrt zurück. Nicht aber die Menschen, die hier einst tätig waren. Das ist die traurige Botschaft eines durchaus Mut machenden Buches. Denn dessen Affirmation ist eindeutig: Diese Ostdeutschen stehen so selbstbewusst wie trotzig zu ihrer Geschichte. Und Biskup hat das nüchtern dokumentiert.
Daniel Biskup: Spuren (400 Fotos), Verlag Salz und Silber, Augsburg 2024, 288 Seiten, 45,00 Euro.
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