28. Jahrgang | Nummer 7 | 7. April 2025

Über Volker Brauns HINZE-KUNZE-ROMAN

von Klaus Höpcke

In der Print-Ausgabe der Berliner Zeitung vom 20. März 2025 berichtete Cornelia Geissler über ein Podiumsgespräch in der Staatsbibliothek, das der Frage nachging: „Wie funktionierte das ‚Leseland DDR‘?“. Teilnehmer auf dem Podium waren der Schriftsteller Volker Braun, die Buchwissenschaftlerin Luise Tönhardt und die Bibliotheksexpertin Claudia Lux sowie Christoph Links, Mitherausgeber der vier Bände der „Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert“, der den Abend moderierte. Claudia Lux erinnerte daran: Für die 17 Millionen DDR-Bürger habe es 16.000 Bibliotheken gegeben. In der BRD waren es zur selben Zeit für 72 Millionen Einwohner nur 10.000 Bibliotheken.

Cornelia Geissler schildert unter anderem: Christoph Links wollte von Volker Braun wissen, warum dessen „Erzählung ‚Unvollendete Geschichte‘ 1975 in der von der Akademie der Künste herausgegebenen Zeitschrift Sinn und Form erscheinen konnte, aber erst 13 Jahre später als Buch. […] ‚Zeitschriften unterlagen keiner Zensur, die arbeiteten souverän‘, sagt Braun. Die Souveränität reichte allerdings nicht weit. Das Sinn-und-Form-Heft 5/1975 wurde noch an die Kioske ausgeliefert, dann aber wieder eingezogen. ‚Es durfte auch nicht rezensiert werden.‘ Suhrkamp brachte den Text derweilen im Westen heraus, dort wurde er sogar Schullektüre, und einige Raubdrucke gelangten wieder zurück in den Osten. Erst sehr viel später […] gab die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur die Erlaubnis für ein Buch mit der ‚Unvollendeten Geschichte‘, 1988. Volker Braun sagt, dass es in den Achtzigern bei seinem ‚Hinze-Kunze-Roman‘ nur vier Jahre gedauert habe, bis die Druckgenehmigung kam. Christoph Links erklärt kurz, dass es in dem Buch um ein Verhältnis von Herr und Knecht gehe, was man als Angriff auf die Strukturen verstehen konnte.“

Druckgenehmigungen für obrigkeitshalber umstrittene Bücher oder auch Versagungen derselben trugen in der späten DDR letztinstanzlich die Unterschrift des stellvertretenden Kulturministers Klaus Höpcke, auch wenn die Entscheidungen selbst häufig auf anderer Ebene getroffen wurden.

Zum HINZE-KUNZE-ROMAN bezog Höpcke öffentlich Position.

 Die Redaktion

 

Teil I

Ein komischer Essay Volker Brauns

Goethe soll das Buch „Jacques der Fatalist und sein Herr“ von Denis Diderot in fünfeinhalb Stunden gelesen haben. Die Zeitangabe hat er selbst hinterlassen. „Von sechs Uhr bis ein halb zwölf habe er den Jacques „in der Folge durchgelesen“, heißt es. Während ich die knappe Stundenzahl, die Goethe gebraucht haben will, von Weimar nach Kochberg zu laufen, nicht ganz glauben kann, obwohl man bedenken muß, daß er lief, um Charlotten zu sehen[1], finde ich keinen Grund, sein Lesetempo beim Jacques anzuzweifeln. Zumal er, seine Lektüre-Nachricht erläuternd, mitteilt, er habe sich an einem solchen „ungeheuren Mahle ergötzt“ und „Gott gedankt“, daß er „so eine Portion mit dem größten Appetit auf einmal, als wär’s ein Glas Wasser, und doch mit unbeschreiblicher Wollust verschlingen kann“.

Wie diese von Diderot servierte literarische Portion Goethe unbeschreibliche Lust beim Lesen bereitete, so bot sie einem der Nachfahren Goethes in unseren Tagen Anregung zu eigener Prosa-Produktion. Diderots Buch über Jacques und seinen Herrn wurde Volker Braun zum literarischen Muster für seinen „HINZE-KUNZE-ROMAN“.

Hier wie dort begegnen uns zwei, von denen einer bestimmt, wo’s langgeht, und der andere entsprechend zu handeln hat. Autor wie Leser wären blind, merkten sie nicht, daß solche Aufnahme eines älteren Modells natürlich mit Widerborstigkeiten gespickt ist. Dies vor allem dank der Tatsache, daß zwischen den unter Sozialismus-Bedingungen lebenden Hinzes und Kunzes andere Verhältnisse herrschen als zwischen den Jacques und ihren Herren im Feudal-Zeitalter. „Schließlich, sie standen auf der selben Seite der allgemeinen Barrikade“, heißt es dazu bei Volker Braun, „nicht durch Geburt oder Besitz auf einen Posten genagelt; sie hätten ebensogut die Rollen tauschen können nach einiger Schulung oder bei Verwechslung der Kaderakten.“ Wie der Autor ihre Problematik sieht, das umschreibt er mit den Worten: „Im Prinzip hätte Hinze Bescheid wissen dürfen. Kunze konnte ihm Anweisungen geben, die Hinze nicht billigen aber befolgen mußte, aber Hinze durfte den Laden durchschauen. Sie waren eigentlich gleiche Leute, Hut ab, einsichtig genug, es nicht auszunützen.“

Im Gespann der beiden arbeitet Hinze als Fahrer, Kunze wird gefahren und hat zu sagen, wohin. Wo sie dann hinkommen, treffen sie beide – der eine zum Beispiel in der Werkhalle oder in einem Verwaltungstrakt, der andere in der Kantine oder an einem zum Parken geeigneten Platz – auf Begebenheiten, die ihnen hernach Gelegenheit zum Zwiegespräch bieten. Für einen Roman im eigentlichen Sinn ein spärliches Gerüst, wahrlich. Doch das wirkliche Gewicht des Buches ruht ja darauf nicht. Das wächst im Füreinander/Gegeneinander/Miteinander zwischen Hinze und Kunze und in des Autors sich einmischendem Kommentar. Ich halte Volker Brauns eigene Genrebestimmung der vorliegenden Arbeit für stichhaltig: gesprächsweise nannte er den HINZE-KUNZE-ROMAN einen komischen Essay.

Bezeichnend dafür, wie Gegenstände, die sonst philosophische Essayistik in tiefem Ernst betrachtet, hier komisch abgehandelt werden: Hinze, wie er sich verschiedenen Wahlessen gegenübersieht. Braun nimmt das zum Anlaß, das Wählen „zwischen Erbsen, Vanillenudeln und Rippchen mit Sauerkraut“ bewußt albern zu verquicken mit der schwergewichtigen Problematik von Freiheit und Notwendigkeit. Vom Bilde her beim Futtern bleibend, sagt er dann aber noch mehr, als sich über Erbsen und Vanille sagen läßt: „Die Notwendigkeit verschwindet nicht, indem sie, durch einsichtiges Handeln, Freiheit wird, sie schmeckt durch.“

Wie an dieser Stelle, begegnet uns Braun auch sonst in diesem Buch – und darin folgt er wiederum Diderot – als Spötter. Niemanden und nichts läßt er aus: sich, seine Helden, die von ihm gewählte Erzähl- und Schreibweise, die große und die kleine Welt und nicht zuletzt seine Leser. Unausgesetzt finden sie sich gefoppt. Das ist meistens fröhlich, lustig, manchmal verselbständigt sich ein Spaß; bitter ist es streckenweise auch.

Sogar diejenigen unter den Dichtern, „die das gehaßte Metier Satire geübt haben“, seien „letztendlich Schmeichler“ gewesen, meint der Herr bei Diderot. Manche Herren von außerhalb werden ähnliches vermutlich über Volker Braun anläßlich seines neuen Buches sagen. Wegen seiner spürbaren Sozialismusliebe. Andere werden behaupten, von ihm erzählte Episoden aus dem sozialistischen Alltag bestätigten ihre antisozialistischen Lügen. Denke ich an hiesige Genossen und Freunde, so werden viele von ihnen die Hinze-Kunze-Vorstellungen über die Leitung gesellschaftlicher Prozesse wohl gerade dank der komischen und satirischen Züge für diskutierbar gestaltet ansehen. Anderen hier kann es so ergehen, daß sie sich von Passagen des Romans abwenden und ihn dann gänzlich ablehnen. Warum? Weil sie in der Überhöhung, im Zuspitzen bis in die Unmöglichkeit vielleicht das Satirische nicht wahrnehmen. Zu hoffen bliebe, daß ihnen die „schöngeistige Lesehilfe“ von Dieter Schlenstedt im Anhang des Buches einen Anhalt zu besserem Verständnis gibt. So möge es dahin kommen, daß sie die in der Satire liegende Wertung entdecken, die nicht selten in einer Parteinahme für das dem Dargestellten Entgegengesetzte liegt.

Zum Streiten darüber, wie wir verstehen, was der Autor geschrieben hat und was er gemeint haben mag, bleibt auch dann reichhaltiger Stoff.

Volker Braun läßt seinen als Figur im Text auftretenden Autor gelegentlich angeben, er beschreibe am liebsten, was er am wenigsten begreife. Welche Kunden geben uns – nach solchem Vor-Satz – Sätze, in denen von Institutionen die Rede ist als „Produkten langjähriger Arbeit von oben herab, die sich in die Landschaft festgesetzt hatten wie ägyptische Pyramiden“? Geschrieben sein mögen sie auf der Suche nach der Dialektik, die der sozialistischen Planwirtschaft und dem demokratischen Zentralismus innewohnt. „Suchet, so werdet ihr finden“, heißt es in der Bibel. Bleibt aber das, was hierzu von Hinze gefunden wird, nicht hinter dem, was er hätte finden können, zurück?

Hinze merkt zwar: „Er lebte längst in den besseren Zeiten … Auf den Stühlen saßen seine Leute, konnte man sagen.“ Aber Veränderungen, die man, Volker Brauns bildhafte Wendung aufgreifend, Ent- und Umpyramidisierungen nennen könnte, fallen Hinze nicht auf. Und doch finden sie ständig statt. Während der letzten Jahre am folgenreichsten in Gestalt der Kombinate, die in unserer Industrie gebildet worden sind. Ferner gehört dazu die Erweiterung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten, Pflichten und Rechte der Bürgermeister sowie der Gemeindevertretungen, Stadtverordnetenversammlungen, Kreis- und Bezirkstage für alles, was in ihren Wirkungsbereichen vor sich geht.

So wird – im Wechselspiel mit verstärktem Einfluß der Organe, die zentral leiten und planen – der örtliche und betriebliche Anteil am Zustandekommen von demokratischem Willen und Wirken sowie an demokratischer Kontrolle weiter ausgebaut. Die Schöpferkraft von mehr Mitgliedern der Gesellschaft als bisher wird so geweckt und kann sich spürbarer entfalten. Auch in den Kämpfen an der Drehbank, im Betrieb, im Beruf hat sich, während Hinze „im Clinch mit den gemachten, den vergangenen, den angehäuften Formen“ geblieben zu sein meint, allerhand geändert. Kein Gespür im Armmuskel dafür, wie die Menge körperlich schwerer Arbeit vermindert wurde, kein Ohr für den Rückgang von Lärm, kein Auge, keine Nase für die Einschränkung lästigen Schmutzes im Produktionsprozeß? Ach doch. All das verschwindet unter der Metapher „das aschgraue, mit Grünpflanzen getarnte Schlachtfeld“.

Wie verträgt sich das miteinander: verbesserte materielle Grundlagen für das physische, physiologische und psychische Wohlbefinden der Menschen in der Arbeit so lässig abzutun, aber gleichzeitig von „eisernen Bedingungen“ zu reden, die „verschwinden oder zerbrochen werden“ müßten? Wird das geistige Wohlbefinden als von den materiellen Faktoren der Kultur der Arbeit abgetrennt gedacht?! Oder spricht sich so – das wäre das entgegengesetzte Extrem – der Traum aus, Arbeit könne vonstatten gehen, ohne Arbeit zu sein?

Vielleicht komme ich mit dieser Frage dem der ganzen Szene zugedachten Sinngehalt am nächsten. Dem Autor geht es offenbar um die Aufhebung vieler Arbeiten im bisherigen Sinn, die Befreiung verschiedener Tätigkeiten vom Zwang vieler „toter“ Gegenstände und Bedingungen. Er kann mir vorhalten, mit meinen Anmerkungen bliebe ich im Verhältnis zu dieser großen, an Marx geschulten Vision klein an Heutigem kleben. „Kleben?“, würde ich erwidern. „Nein. Aber ich meine, verwirklichen läßt sich das Marxsche Gesellschaftskonzept nicht anders als dadurch, daß unter unseren Händen künftiges Kommunistisches aus heutigem Sozialistischem hervorwächst.“ Darf ich hoffen, niemand – auch der Autor nicht – wird diesen Standpunkt mit der Vorstellung verwechseln, der Kommunismus sei nichts anderes als der Sozialismus von heute, nur ohne dessen Mängel?

Wie Arbeit, Tätigkeit, Anstrengung körperlicher und geistiger Kraft im Sozialismus zu vollbringen und zu genießen sind – das vermitteln uns die komödienhaften Bilder und essayistischen Erwägungen im HINZE-KUNZE-ROMAN zum Beispiel so: Aus der Neuererbewegung erfährt man den Vorfall willkürlich verzögerter Verwirklichung wichtiger Vorschläge. – Eine sinnvolle Kritik an Praktiken, die Schöpfertum beeinträchtigen. In ihr schwingt wohl mit, daß Hinze weiß und Kunze ahnt/Kunze weiß und Hinze ahnt: Wenn auf Dauer die allseitige Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus auch im Hinblick auf die Arbeitsproduktivität herbeigeführt wird, dann mit an erster Stelle dank millionenfach entfaltetem Neuerersinn und Erfindergeist. Deren Wirksamkeit darf durch Formalismus in keiner Weise behindert werden; sich dynamisch auszudehnen, ist ihr inneres Gesetz. Bin ich mir mit Volker Braun auch einig, wenn ich bedenke, welche ganz unpyramidial im Gelände unserer Gesellschaft sich bewegenden Einrichtungen diesen dynamischen Aufschwung gewährleisten? Mir kommt da vor allem der sozialistische Wettbewerb in den Sinn, eine der Wirtschaftswachstum und Persönlichkeitsbildung in unserer Republik gleichermaßen fördernden bewußtseins- und intuitionsfreundlichen[2] Institutionen.

Weltbühne 33/1985

 

Teil II

Lisa oder: Ein Gewinn für alle

Für einen „Treffer“ halte ich, was Braun über die Frauen im Sozialismus schreibt. Die Geschichten, die zu diesem Thema erzählt werden, zeigen selbst im groteskesten Hergang noch, was sich gewandelt hat: daß die Frau bei uns nicht mehr lediglich Genommene oder Nichtgenommene ist, sondern auch selber nimmt oder nicht nimmt und gibt oder nicht gibt. Und das betrifft den Mann und die Liebe mit ihm so gut wie Arbeit, Leben, Lernen, Freundschaften, Feindschaften, Schweigen, Reden – was man will: „… dies war entschieden neu: diese Stellung der Frau, die in keinem westlichen Bilderheftchen beschrieben ist. Sie war keine Magd mehr, sie war so gut ein Mann wie jeder in der Planung, sie wurde gefördert zu ihrem Glück. Ein Liebesdienst, bei dem die Sozietät[3] unendlich zu gewinnen hatte; er würde auf die Dauer, über alle Durststrecken weg, Preußen berühmt und mächtig machen unter den nacheifernden Völkern.“ Und Preußen steht hier gleich noch für Sachsen mit, denn den Sächsinnen geht’s ja nicht schlechter in diesen Dingen als den Mädchen und Frauen in denjenigen Landstrichen des Preußens von ehedem, die heute die Mitte und den Norden des DDR-Territoriums bilden.

Lisa ist es vor allem, Hinzes, des Fahrers, Ehefrau, deren Geschick die sich verändernde Stellung der Frau in diesem Buch verkörpert. Von Kunze gefördert, lernt sie beruflich hinzu und wächst als Mensch mit eigenem Überblick und Willen. Daß der die Frau Fördernde auch amourös mit ihr verbunden sein kann, halte ich für einen möglicherweise reizvollen künstlerischen Einfall. Hier aber bedeutet dies, daß der Gefahrene hinter „seines“ Fahrers Frau her ist, was, weil Hinze das hinnimmt, damit endet, daß Lisa es am Ende folgerichtig weder mit Hinze noch mit Kunze zu tun haben will.

Daß der Gewinn für alle, den gleichberechtigte Beziehungen zwischen Männern und Frauen bedeuten, sich nicht von allein einstellt, sondern gegen vielerlei Widrigkeiten errungen werden muß, zeigt Braun in den Episoden auch um andere Frauen sowie im rückständigen Geschwätz von Zimmerkumpanen während Kunzes Kur.

Zwiespältig mutet an, was Kunzes Kopf bei einer Reise in kapitalistische Gefilde aufnimmt. Leichtfertigkeit schlägt in Ernüchterung um, als er Kommerzialisierung der Geschlechterbeziehungen und Demütigung der Frau erlebt. Schwerer zu schaffen macht dem Reisenden, daß er zu sehen meint, der Kapitalismus, den er von Grund auf ablehnt, gebe sich im Vergleich mit dem Sozialismus freier. Im Hinzeundkunzegespräch nach der Reise spricht Hinze, der sich wissend dünkt, auf unsere Verhältnisse gemünzt: „Erprobte Leute, wie im Aufsichtsrat. Nur daß wir es doppelt nähen, damit es besser hält. Partei und Staat, da kann der Kapitalismus Augen machen.“ Wenn Hinze nur wirklich wüßte, wie’s die Monopole treiben, wie sie 1. Konzernposten, 2. Sitze in den Banken, 3. Befehlsstationen in den Streitkräften, 4. Parteiämter, 5. Regierungspositionen, 6. Abgeordnetenmandate und anderes miteinander zu einem dichtmaschigen Netz verflechten, er hätte das vielleicht liebevoll-ironisch positiv gemeinte Bild vom doppelten Nähen bei uns wohl doch sausen lassen.

Übrigens: Raphael in Morus’ Schrift „Utopia“ rechnete, bevor er die um das Jahr 1500 nirgendwo realisierte Daseinsweise mit glückbringenden kommunistischen Lebenselementen seinen Freunden Thomas und Peter schilderte, aufs anschaulichste und entschiedenste mit der Arbeitslosigkeit ab, die der Kapitalismus schon in seinen frühesten Realisierungsformen im damaligen England hervorbrachte. Kunze in Volker Brauns vorliegender, gewisse Daseinsweisen im realen Sozialismus komisch behandelnder Schrift kehrt vom Beobachten einer späten Realisierungsform des Kapitalismus in der BRD zurück, wo mehr als zweieinhalb Millionen Menschen von Arbeitslosigkeit geplagt sind, aber kein Wort davon fließt in seinen Bericht an Freund Hinze ein. Mag sein, daß die Abrechnung damit noch „nachgeliefert“ wird. Wie man hört, arbeitet Braun an einer Kapitalismus-Satire. Ergibt sich da dann doch noch eine Parallele zu Morus? Der nämlich hat den zitierten Kritik-Teil, obwohl er ihn als „Erstes Buch“ in sein Werk einordnet hat, nach dem zweiten Buch verfaßt.

Fröhlicher als die Begegnung mit der Vergangenheit in westlich benachbarter Landschaft gerät Kunzes Treffen mit der Gegenwart und Zukunft in Gestalten aus der Vergangenheit hier: Als Teilnehmer der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar in Berlin sieht er in seiner Phantasie die, zu deren Ehren demonstriert wird, wie auferstanden unter den Marschierenden herumspringen. In dem Lebensalter, in welchem sie zu Tode kamen, und mit den Idealen, für die sie zu ihrer Zeit fochten. Allerdings mit mancher Verzerrung ihres politischen Antlitzes. Eine gewagte Szene, in ihrer Ausführung keineswegs durch und durch gelungen. Dennoch entsteht vom Ansatz her so etwas wie ein historisches Bezugsfeld. Denn die Augen der Vorkämpfer auf unserem Land entdecken allerhand, was sich in ihrem Geiste getan hat.

Heiter ist der Ton, der erklingt, wenn wir Feststellungen auf verschiedenen Seiten des Romans im Zusammenhang mit dem „Nachtrag“ lesen. Zum Beispiel lesen wir vorn: „Was den Bürger unmittelbar anging, schien besser instand als das Großeganze, für das keiner verantwortlich war: das bröckelte ab.“ Im Nachtrag dann berichtet der Autor, wie er in die Lottumstraße lief, um ihr „still die Meldung zu machen“ über seinen Text. Was fand er vor? „Die Häuser wurden köstlich erneuert… Diese Straße, kaum daß sie beschrieben war, korrigierte sich; so wie es ist auf dem Papier, bleibt es nicht. O wollte man, rief er, alle unsere Bücher so Korrektur lesen, o großer Korrektor, mächtiger Korrektor! Und er bog um die Ecke, in eine unbeschriebene Gegend.“ – „Im übrigen ist das Leben zu ändern“, hieß es im Motto der 1972 veröffentlichten Geschichten unter dem Titel „Das ungezwungne Leben Kasts“. Des Autors Freude über Beweise der Änderung teilt sich seinen Lesern überzeugend mit. Und an den Stellen, die noch düster sind und auch düster beschrieben werden, sind wir mit ihm gewiß: So bleibt es nicht.

Zur vergnüglichen Seite vom Lesegenuß gehört für mich beim HINZE-KUNZE-ROMAN das, was der Autor sprachlich leistet. Braunsche Sprachkraft zeigt sich in der poetischen Dichte vieler Sätze der erzählenden und essayistischen Prosa dieses Schriftstellers. Da steht: „Er starrte auf diesen breiten Mund, der lautlos zwei Lippen riskierte.“ Und: „Er lehnte sich zurück, er wies sich weit von sich.“ Weiter Aphoristisches: „Dem Furchtsamen rauschen alle Blätter. Auch in der Schublade.“ „Gerade mir, der ich genötigt bin zu Entscheidungen, muß man die Meinung geigen. Ich bin darauf angewiesen.“ Und die Umdichtung des Schillerworts über ernstes Leben und heitere Kunst: „Oft ist das Leben, einmal ist die Kunst.“ Gelungen scheint mir der Versuch, im Reden und Denken der Lisa die Sprechweise von „Berliner Schnauze“ ohne vulgäre Vergröberung in schön stilisierter Ursprünglichkeit aufs Papier zu bringen.

Was den Umgang mit dem Werk anderer Schreibender betrifft, so fällt der unterschiedlich aus. Da gibt es Fühmanns Sauna-Skizze, die collageartig aufgenommen wird, um Kunzes Körper Plastizität zu geben: ein Gewinn. Dann Rimbauds Tanz der Schwänze, abgewandelt vorgeführt: schon das Urbild blieb umstritten. Braun hat seiner Fassung einen politischen Akzent, der Frauenweisheit preisen soll, aufgesetzt; ob das über Bedenken weghilft, darf bezweifelt werden. Nolls Kippenberg als „Dr. Wackelbach“ vom „Autor N.“: darüber äußert sich der Autor B. so, als ob es ihm genügt, das von einigen Literaturwissenschaftlern angefertigte Etikett einfach seinem Text einzuverleiben (in seiner Version: „Liebe eines sehr jungen Mädchens, … wodurch sich größere soziale Veränderungen erübrigen“), ohne sich die Mühe eigener Lektüre zu machen.

Bevor ich zum Schluß meiner Betrachtung zu Volker Brauns neuer Arbeit komme, einige Gedanken zu den Seiten, auf denen Hinze und Kunze der Frage nachgehen, ob uns die Sicherung des Friedens so überanstrengt, daß für Fortschritt und Wohlstand keine Kraft bleibe. Nun läuft die Politik der sozialistischen Staatengemeinschaft ja gerade darauf hinaus, den Frieden vor allem zu sichern, indem durch weiteren Fortschritt die ökonomischen, innenpolitischen, sozialen und kulturellen Kräfte des Sozialismus gestärkt werden. Und dadurch, daß, im Zusammenhang mit diesem inneren Kraftzuwachs seine außenpolitischen Bemühungen um eine Koalition der Vernunft fortgesetzt werden und weiter zunehmen sowie seine militärische Verteidigungsfähigkeit gefestigt wird. Wer den Blick bloß auf letztere richtet, hat einen selbstgewählten Ausschnitt vor Augen. Ihn fürs Ganze der Anstrengungen für den Frieden zu halten wäre falsch. – Klar ist, daß bei Überwindung der vom Imperialismus ausgehenden Kriegsgefahr unermeßlich mehr Mittel für den sozialen Fortschritt überall auf der Erde zur Verfügung stehen werden.

Um eine Beziehung zwischen Leiter und Geleitetem darzustellen, hätte der Autor für seine Gestalten auch andere Berufe bzw. Positionen wählen können. Beispielsweise Direktor eines Betriebes der metallverarbeitenden Industrie und Dreher (Zerspanungsfacharbeiter) in der entsprechenden Abteilung dieses Betriebes. Damit wäre ihm aber die Gelegenheit abhanden gekommen, die beiden täglich, ja stündlich zusammenzuführen. In dieser Möglichkeit liegt der modellhafte, der eigentliche literarische Sinn des Gespanns von Fahrer und beifahrendem Bestimmer. Von daher vor allem bot sich das Diderotsche Muster so sehr an. Aber wenn Leute, die fahren, und Leute, die gefahren werden, das Büchlein lesen, werden sie sich dann und wann darüberhinaus (oder darunterweg) auch in ganz unmittelbarer Weise angesprochen fühlen, „ertappt“ bei einer Redensart, Verhaltensweise, Handlung … Kunze und Hinze sind da wie in ihren umstrittenen Ansichten nicht frei von Fehlern. Der Genosse, der das Auto fährt, in dem ich sitze, wenn ich hierher will oder dorthin muß – wobei wir sowohl wissen, daß es vorwärts geht, als auch wohin —, er jedenfalls entdeckte wie ich bei der Lektüre „Tips“. Wollen wir mehr als Hinze und Kunze – nämlich nicht bloß, „solange der Weg einigermaßen glattläuft“, miteinander auskommen —, so erfordert das: zu verhüten, daß wir zerhinzen und verkunzen.

Weltbühne 34/1985

Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.

 

Leider ist es der Redaktion nicht gelungen, Inhaber der Rechte an Klaus Höpckes Wb-Publikationen ausfindig zu machen. Wir bitten daher darum, sich gegebenenfalls mit uns in Verbindung zu setzen.

 

[1] – In vier Stunden, fühlte Goethe, war er da; fünf Stunden und zwanzig Minuten benötigen zügige Wanderer auf seinen Spuren, die vorm Aufbruch und am Ziel auf die Ruhlaer Uhren an ihren Armen sehen.

 

[2] – abgeleitet von Intuition – laut Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Akademie-Verlag, Berlin 1984), 1. Band, Seite 607: spontanes, teilweise bewußtes geistiges Erfassen von etwas auf der Grundlage von Erfahrungen

 

[3] – Sozietät – laut Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Akademie-Verlag, Berlin 1976), 5. Band, S. 3470: organisierter oder lockerer Zusammenschluß von Menschen mit gleichen Interessen, Zielen