28. Jahrgang | Nummer 7 | 7. April 2025

Es geht doch

von Bert Breitenbach

Zwei wuchtige Findlinge stehen vor der Nachbildung der aus rostbraunem Cortenstahl nachgebildeten Portalruine des Gutshauses. Auf dem einen steht „Den gefallenen sowjetischen Soldaten“, die andere Inschrift erinnert an die deutschen Wehrmachtsoldaten. Im März 1945 wurde um den „Stützpunkt Klessin“ gekämpft, gelegen im Süden des Bergrückens an der Oder, der als Seelower Höhen bekannt wurde.

Justament an diesem 22. März 2025, als sich an die hundert Personen aus der Umgebung hier einfinden, hatte vor achtzig Jahren ein Hauptmann Böge per Funk darum gebeten, dass seine neunzig noch lebenden Soldaten (von ursprünglich dreihundert) sich zurückziehen dürfen. „Einem weiteren Angriff ist die Kampfgruppe nicht gewachsen.“ Die Antwort kam postwendend, die Stellung sei „unter allen Umständen“ zu halten. „Männer von Klessin! Man sieht voller Stolz und Bewunderung auf Euch. Ihr seid entscheidende Wellenbrecher gegen den bolschewistischen Ansturm auf die Reichshauptstadt. Heil unserem Führer. SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Kleinheisterkamp.“

Es gingen nicht nur sowjetische Granaten auf den Stützpunkt nieder, sondern auch Flugblätter der 69. Armee. „Soldaten der Besatzung von Klessin! Ihr könnt Euch einen, zwei Tage halten, vielleicht noch eine Woche – das ändert nichts. Vor Euch ist der Tod. Jetzt zu sterben – am Vorabend des Tages, an dem die Zeit der friedlichen Arbeit beginnt, wo es keine Bomben und Minen, keine SS und Gestapo mehr gibt –, was kann noch sinnloser sein! […] Die Parole heißt – Leben!“

Hauptmann Böge widersetzte sich sowohl dem Befehl der eigenen Führung wie auch der vernünftigen Aufforderung der Roten Armee – er zog sich zurück und starb trotzdem, nur wenige Kilometer von hier, am 16. April. Auch die anderen Überlebenden von Klessin sahen das Kriegsende nicht. Sie wurden in Lietzen und Halbe bestattet.

„Oder gelten bis heute noch als vermisst.“ So kann man es auf den Tafeln auf dem einstigen Gutsgelände lesen. Auch, dass „im Klessiner Kampfgebiet schätzungsweise 700-800 Rotarmisten“ starben. „Die meisten wurden auf Feldfriedhöfen beigesetzt. Viele jedoch verblieben in den Schützengräben und Bombentrichtern und wurden nicht geborgen.“ Zwischen 2005 und 2019 fand dort der Verein zur Bergung Gefallener in Osteuropa (VGBO) bei neunzehn Grabungen die Gebeine von 237 Soldaten – 125 Rotarmisten, 112 Wehrmachtsoldaten. „Auf und im Umfeld der heutigen Erinnerungs- und Gedenkstätte werden noch über einhundert Kriegstote beider Nationen vermutet.“ Der Verein werde seine Suche fortsetzen. Klessin war im Frühjahr 1945 der am stärksten und am längsten umkämpfte Stützpunkt auf den Seelower Höhen, sagen Historiker.

So sachlich und frei von zeitgeistigen Verrenkungen kann man es auf dem Areal des einstigen Gutes lesen, den der Wuhdener Heimatverein in jahrzehntelanger Arbeit als Gedenkstätte hergerichtet hat. Von inzwischen dreißigtausend Stunden geht die Rede, die hier investiert worden sind. Die anwesende Obrigkeit würdigte insbesondere die Tatsache, dass die engagierten Menschen ihrem eigenen Antrieb und nicht einem Ukas von oben gefolgt seien. Vielleicht erklärt dies die ideologiefreie Herrichtung des „Kriegsschauplatzes Schloss Klessin“ zum Mahnmal, über dem die auch an diesem Tage wiederholt explizit bekundete Mahnung schwebt: Nie wieder Krieg! Und dass die Texte nicht nur auf Deutsch, Polnisch und Englisch zu lesen sind, sondern auch auf Russisch.

Und noch etwas ist wert, hervorgehoben zu werden: Die Menschen sind gekommen, um einer Enthüllung beizuwohnen. Mit Reden und Posaunenchor, mit Kränzen und Blumengebinden, bei strahlendem Sonnenschein und Vogelgezwitscher, unweit der an den Oderhängen gelb blühenden Adonisröschen. Seelows parteiloser Bürgermeister wird an diesem Samstag ein Relief, ein Signum an einem Mauerrest des einstigen Gutshauses, von seiner Verkleidung befreien. Das Zeichen besagt, dass dieser Ort nunmehr zur „Liberation Route Europe“ gehört, der Route der Befreiung Europas. Eine internationale Stiftung, zu der Regierungsorganisationen, Universitäten, Museen, Veteranenverbände und andere der Geschichte verpflichtende Institutionen gehören, stiftete das kreisrunde Medaillon, auf dem der Schriftzug des Schöpfers („Design by STUDIO LIBESKIND“, New York) so groß ist wie alle anderen Zeichen, die den Sinn des „Vektors der Erinnerung“ erklären. Geschenkt. Tue Gutes und lass es auch die Leute wissen …

Zu den Unterstützern der 2019 – zum 75. Jahrestag der Befreiung – ins Leben gerufenen Vereinigung gehört auch das Europäische Parlament. Man wolle, so hieß es damals, auf einer Route der Erinnerung Schauplätze der Befreiung von 1944/45 markieren und miteinander verbinden. So sollten zur bleibenden Mahnung die Wege der „Alliierten Streitkräfte“ gezeigt werden, auf denen sie bis nach Berlin gelangten. Komisch nur, dass auf dieser solcherart markierten Route – miteinander verbunden inzwischen dreitausend Kilometer lang – nur Orte in Westeuropa liegen, sieht man einmal von Danzig und Warschau ab. Auch dort jedoch wird lediglich an den Überfall Hitlerdeutschlands erinnert und nicht an die Befreiung durch die Rote Armee. Nach dieser vorgegebenen ahistorischen Lesart gehörte die Sowjetarmee augenscheinlich nicht zu den alliierten Streitkräften der Antihitlerkoalition.

So gesehen ist Klessin also der erste Ort der Route, an welchem die Mitwirkung der Roten Armee an der militärischen Zerschlagung der Nazidiktatur explizit dokumentiert ist.

Klessin ist ein Ortsteil von Podelzig und eine lose Ansammlung einiger Gehöfte, mehr sind nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut worden. Man gelangt über die Fernverkehrsstraße zwischen Lebus und Manschnow dorthin, der Weg zum „Kriegsschauplatz Schloss Klessin“ ist eine Sackgasse. Der Gedenkort ist didaktisch aufbereitet – an jedem Bombentrichter, an jedem Mauerrest, an jedem Schützengraben finden sich viersprachig die Erklärungen, überdies gibt es einige Säulen. Sobald man dort ein Rad dreht und Strom erzeugt, kommen die Erklärungen auch akustisch.

Der Trümmerhaufen im Zentrum der Anlage war mal das Gutshaus. Er ist durch Mauern eingefasst, das sind Gitterkäfige mit Kriegsschutt, und im winzigen Keller, der sich unter der Eingangstreppe befindet, hängen Kranzschleifen von der Decke, liegen deutsche und sowjetische Stahlhelme, Pferdeknochen, Stacheldraht, Weinflaschen aus dem Keller, Granatsplitter, zerschossenes Holz und andere Reste des oberirdischen Gemetzels. Von der früheren Terrasse blickt man hinüber zur Oder. Inzwischen sind die Bäume in der Sichtachse achtzig Jahre hoch und nur, weil sie noch blattlos sind, zu durchschauen. Gutsherr Otto von Albedyll, aus einem preußischen Adelsgeschlecht stammend, verstand zu leben. Er verstarb übrigens unbescholten mit siebzig Jahren 1957 in der DDR. Er ist auf einer Aufnahme zu sehen, die die Gutsfamilie mit Hauslehrerin 1943 im Herrenzimmer zeigt. Sohn Otto-Christer ist zu sehen (in Zivil, obgleich seit 1939 Soldat – er sollte als Major im Mai 1945 fallen), der Hausherr trägt Uniform. Eine Idylle mitten im Krieg.

Diesen Gedenkort, so bedauert einer der Redner vom Heimatverein, haben zwar schon viele Besucher aufgesucht, Deutsche und Ausländer, selbst Amerikaner seien bereits dagewesen. Russen erwähnt er nicht: vermutlich der Umstände wegen. Aber noch trauriger mache ihn die Tatsache, dass bisher nicht eine Schulklasse mit Lehrer hier gewesen sei. Denn das sei doch ein Lernort, an dem man erkennen könne, wie verbrecherisch und unsinnig Krieg ist. Jeder Krieg!

Nun ja, wenn ein Volk „kriegstüchtig“ gemacht werden soll, braucht man derlei Aufklärung nicht. Die ist dabei nur hinderlich, schlimmstenfalls wehrkraftzersetzend …