Die Komplexität der Außenpolitik eines Landes hängt entscheidend von der Anzahl der Faktoren ab, die es bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen hat. Ob Habsburg, Preußen, das Deutsche Reich oder die Bundesrepublik Deutschland – als Mittelmächte mit begrenztem Zugang zum Meer, umzingelt von mächtigen Nachbarn und ohne nennenswerte Bodenschätze, hatten sie in ihrer Außenpolitik stets mehr Faktoren zu berücksichtigen als alle anderen Großmächte, weil die Geografie sie dazu verfluchte.
Der deutschsprachige Raum musste, um Frieden und seine Machtstellung in Europa zu bewahren, stets neutral bleiben, sich weder als Vorreiter des Ostens noch des Westens positionieren, die daraus resultierende Unsicherheit aushalten und geschickt zwischen beiden Seiten balancieren, um Frieden und eigene Interessen zu sichern.
Die dazu notwendige Staatskunst liegt nicht in den Eindeutigkeiten, sondern in den Grautönen, in den feinen Nuancen der Machtpolitik. Eigentlich hätte Deutschland in jeder Generation ein Politikgenie hervorbringen müssen, um dieser Komplexität in Europa und seiner eigenen Rolle darin gerecht zu werden. Österreich hat dieses Kunststück mit Fürst Metternich und das Deutsche Reich mit Fürst Bismarck vollbringen können, doch eben nur zweimal innerhalb von Jahrhunderten. Die meisten anderen sind an dieser Komplexität gescheitert, und es ist kein Zufall, dass zwei Weltkriege auch eine wesentliche Folge davon waren. Wie geschickt diese Balancierung sein kann, dass sie fast niemandem auffällt, hat die Bundesrepublik Deutschland nach 1989 gezeigt, als sie die NATO-Osterweiterung maßgeblich steuerte.
Nach der Auflösung des Warschauer Paktes Mitte 1991 und erst recht mit dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 entstand in Mittel- und Osteuropa ein machtpolitisches Vakuum, und es war nur eine Frage der Zeit, bis es von einer Großmacht gefüllt werden würde. Interessanterweise waren es nicht die USA, die dies wollten. Denn Washington war aus den Erfahrungen des Kalten Krieges klug genug, seine traditionelle Politik des Gleichgewichts der Mächte nicht aufzugeben. Während die USA in der öffentlichen Wahrnehmung der Hegemon in Europa blieben, war der treibende Motor der NATO-Erweiterung in Wirklichkeit Berlin. Die Wissenschaftlerin Chaya Arora hat in ihrer Studie „NATO Expansion and the Art of Communicative Action, Germany’s Civilian Power Diplomacy“ zahlreiche Dokumente angeführt, die eindeutig belegen, dass Berlin unmittelbar mit der Auflösung des Warschauer Paktes begann, die NATO-Osterweiterung zu forcieren, und zwar aus Eigeninteresse.
Die beiden Architekten der Erweiterung sind der verstorbene Vizeadmiral Ulrich Weisser und der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe. Beide haben die NATO-Erweiterung entscheidend vorangetrieben. Im Jahr 1991 beauftragten sie die heutige Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) mit einer umfassenden Studie zur Ausarbeitung der besten außenpolitischen Optionen für Deutschland. Vom Ergebnis waren Weisser und Rühe enttäuscht. Die Studie sei viel zu theoretisch und zu wenig innovativ gewesen, wohl auch deshalb, weil die SWP darin die Pläne zur NATO-Osterweiterung kritisierte.
Weisser und Rühe gingen ein hohes Risiko ein, indem sie US-amerikanische Experten des RAND-Thinktanks, bei dem Weisser selbst tätig gewesen war, auf deutsche Kosten mit der Bearbeitung des Themas beauftragten. Neben der Expertise, die Weisser damit nach Deutschland holte, sorgte er gleichzeitig dafür, dass in Washington der Dominostein für die NATO-Osterweiterung fiel: „Die Arbeit von RAND war für uns sehr hilfreich, weil sie eine Reihe zusätzlicher Argumente für unsere Politik lieferte, und ich habe RAND absichtlich eingesetzt, um die politischen Entscheidungsträger in Washington zu beeinflussen. Nun, das wurde noch nie jemandem erzählt. Ich habe RAND instrumentalisiert, um diese Art von politischem Einfluss zu erreichen, weil ich wusste, dass die RAND-Leute ständig mit US-Beamten sprachen und ihre Ideen der deutschen Regierung vorstellten, und dass sie hin- und hergingen und den USA berichteten (…)“, sagte Weisser selbst.
Der Erfolg gab Weisser und Rühe recht: In Washington setzte allmählich ein Umdenken ein, das zunehmend eine NATO-Mitgliedschaft Osteuropas befürwortete. Wie hat die Russische Föderation auf diese Entwicklung reagiert? Russlands erster Außenminister, Andrei Kosyrew, erklärt im Interview mit Alexander Dubowy, dass die NATO-Osterweiterung bis Mitte der 1990er-Jahre für Russland zunächst kein Aufreger war. Erst ab 1995, unter wachsendem innenpolitischen Druck, griff Präsident Boris Jelzin zunehmend auf Anti-NATO-Rhetorik zurück. US-Präsident Bill Clinton sympathisierte erst 1993 mit dieser Idee, da hatten die deutschen Architekten in der außenpolitischen Elite der USA längst das Fundament gelegt.
Der Stein wurde ab da ins Rollen gebracht und der Rest ist Geschichte. Das Duo hatte es geschafft, ohne dass es in Europa auffiel und ohne dass man die großen Ambitionen Deutschlands erkannte, den USA die Hauptverantwortung für die NATO-Osterweiterung aufzubürden, während Berlin unterm Radar der Motor des Prozesses blieb. Aber warum wählten die beiden diese Herangehensweise? Was war das strategische Ziel? Und wie verhielt sich Bundeskanzler Helmut Kohl dazu?
Rühe und Weisser hatten die historische strategische Lage Deutschlands richtig erkannt, Ost und West auszubalancieren und den eigenen Einflussbereich nur unter dem Radar erweitern zu können. Nachdem die anderen Mächte die deutsche Wiedervereinigung mühevoll akzeptiert hatten, konnte sich Deutschland nicht auch noch an die Sperrspitze einer NATO-Osterweiterung setzen. Frankreich, Großbritannien, die USA und Russland wären über diese neuen Ambitionen Berlins verärgert gewesen und hätten sie wahrscheinlich nach Kräften blockiert.
Berlins Ziel war es daher, die USA als Vorreiter der NATO-Erweiterung zu gewinnen, denn keine andere Macht würde sich daran stören, und wenn doch, dann wären die USA dafür verantwortlich. Gleichzeitig sorgten die beiden deutschen Politiker dafür, dass die USA den größten Teil der Sicherheitskosten für die neue deutsche Einflusssphäre trugen, während Deutschland mit der EU-Osterweiterung 2004–2013 dafür sorgte, dass Osteuropa wirtschaftlich an Deutschland gebunden wurde. Deutschland erntete die Früchte dieser NATO-Integration, ohne die Kosten tragen zu müssen.
Summa summarum hatte Deutschland Osteuropa wirtschaftlich an sich gebunden und gleichzeitig sicherheitspolitisch bei den Amerikanern abgesichert, ohne die deutschen Beziehungen zu Moskau zu gefährden – ein diplomatisches Meisterstück.
Rühe hielt mit seiner Vision auch nicht hinter dem Berg. Im März 1993 hielt er im renommierten IISS (International Institute for Strategic Studies) in London eine kaum beachtete Rede zu strategischen Zielen Deutschlands. Eine Rede, die er mit niemandem aus der deutschen Regierung abstimmte: „(…) Wir müssen die transatlantische Partnerschaft auf eine neue Grundlage stellen. Was wir brauchen, ist eine neue Partnerschaft von Gleichen – Amerika als Partner, der die Gestaltung des neuen Europa unterstützt, und ein Europa, das mehr Verantwortung für sich selbst und für die Förderung des Weltfriedens übernimmt. Dies um so mehr als auch unser amerikanischer Partner seine Rolle sowohl als Weltmacht als auch im Rahmen der nordatlantischen Allianz neu definiert. Es gilt jetzt, diese beiden Prozesse miteinander zu harmonisieren. Dazu müssen wir unsere Allianz weiterentwickeln. Wir müssen die politisch-strategische Konzeption der NATO den neuen Bedingungen anpassen, sodass sie den Wandel im transatlantischen Verhältnis zum Ausdruck bringt. Das wird sich auch auf Organisation und Strukturen der NATO auswirken (…)“, betonte Rühe. Mit anderen Worten: Die USA sollen, auch mit dem Wohlwollen Deutschlands, der Schutzpatron Europas bleiben, doch nur so lange, bis Europa diese Aufgabe selbst übernehmen kann.
Kohl schaute wohlwollend zu
Doch wusste eigentlich Bundeskanzler Helmut Kohl, was sein Verteidigungsminister da trieb? Weisser selbst sagt, er glaube es nicht. Die Wahrheit dürfte irgendwo in der Mitte liegen. Kohl kann der Ehrgeiz seines Verteidigungsministers, der führende Kopf der CDU-Außen- und Sicherheitspolitik zu sein, nicht entgangen sein. Er hat ihn aber nur zu offensichtlich gewähren lassen. Helmut Kohl war ein zu erfahrener Politiker, um auch nur ein einziges Wort an Kritik über die Pläne seines Verteidigungsministers öffentlich zu äußern, denn das hätte wohl in und außerhalb Europas für Unmut und Widerstände gesorgt. Stattdessen schaute er wohlwollend zu.
Ohne die Initiative Deutschlands hätte es wohl keine NATO-Osterweiterung gegeben, davon war Helmut Kohl überzeugt, wie er auch in seinen Memoiren schreibt: „(…) Denn ohne Deutschlands Beitrag wäre die NATO, dieser Stützpfeiler der europäischen Sicherheit, zerstört worden. Die Amerikaner hätten sich aus Europa zurückgezogen, und die Briten und Franzosen als die beiden europäischen Kernwaffenmächte hätten sich enger zusammenschließen müssen, ohne in der Lage zu sein, eine Sicherheitsgarantie für das übrige Europa zu geben. Damit hätte sich die sicherheitspolitische Statik des Kontinents entscheidend verschoben, und das wäre das Ende der europäischen Integration gewesen.“
Alle deutschen Bundeskanzler nach 1945 hatten erkannt, dass Deutschland seinen Einfluss immer nur dann erweitern und sichern konnte, wenn es Ost und West gleichermaßen in sein Kalkül einbezog und ausbalancierte. Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine 2014 und die vollumfängliche Invasion Russlands 2022 zeigen jedoch auf, dass Deutschland der Komplexität seiner strategischen Lage weder unter Gerhard Schröder noch unter Angela Merkel gerecht geworden ist.
Hinweis: Die geschilderten Ereignisse und Zitate stammen aus der Studie von Chaya Arora.
Berliner Zeitung, 24.12.2024. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Schlagwörter: Muamer Bećirović, NATO-Osterweiterung, Ulrich Weisser, Volker Rühe