Kindheitseindrücke prägen – auch solche medialer Art. Einer meiner ersten Fernseheindrücke war die Serie Belphégor oder das Geheimnis des Louvre, die ich als Zehnjähriger1967 im Vorabendprogramm des WDR gesehen und deren dreizehn knapp halbstündigen Folgen ich je länger desto intensiver entgegengefiebert habe. Ich war nicht der einzige – die Serie war ein Straßenfeger, auch in Frankreich, wo selbst Präsident de Gaulle keine Folge ausließ. In Frankreich zum ersten Mal ausgestrahlt wurde sie vor 60 Jahren, ab dem 6. März 1965.
Das Faszinierende der Geschichte war die spannungsgeladene Handlung, war viel mehr noch das Geheinmisvolle der Bilder. Allein der Vorspann ließ mich schaudern: ein Blick auf die Seine, ein Schuss, ein schriller Akkord, der Louvre – und dann, untermalt von eingängiger, aber beunruhigender Musik, eine knappe Minute lang das Standfoto der im Souterrain des Museums stehenden, schräg angeleuchteten Statue des altorientalischen Gottes Belphégor in ausdrucksloser pharaonischer Majestät. Das Ganze in Schwarz-weiß, was die Kontraste schärfer hervortreten liess. Schließlich die Aura der Hauptdarstellerin Juliette Gréco, die ich als Muse von Saint-Germain-des-Prés ja gar nicht kannte und die ich erst Jahrzehnte später auf der Bühne erleben durfte.
Was mich aber vielleicht am meisten geprägt hat, sind die Bilder von Paris – eines Paris, das es so nicht mehr gibt. Die historischen Monumente noch nicht sandgestrahlt, sondern die Würde ihrer Geschichte bewahrend unter einer Patina aus jahrhundertealtem Schmutz; auf den Straßen eine übersichtliche Zahl von Autos (darunter der Citroen DS, das schönste Auto aller Zeiten); an den Sterbehäusern schwarze Samtportieren. Vor allem aber die Menschen: „hundertdreißigtausend Bretonen“, so heißt es zu Beginn, „dreitausend Amerikaner, dreitausendfünfhundert Deutsche, eine Million fünfhunderttausend Pariser“ – andere Herkünfte scheinen nicht erwähnenswert zu sein. Allesamt jedenfalls „Menschen, die verrückt, bizarr, neugierig, ungewöhnlich sind, kurz: Leute, von denen man nicht immer weiß, was man von ihnen zu halten hat“.
Es ist ein Paris, wie es die frühen Fotografien von Georg Stefan Troller zeigen, die von Robert Doisneau oder wie es Simenon in seinen Maigret-Romanen beschreibt. Es ist das Paris von Sartre, Camus und Beauvoir und zugleich das der Clochards, der Arbeiter und der kleinen Leute, deren Leben wahrlich nicht pittoresk war, sondern hart (mein Onkel hat dort zwanzig Jahre lang Kohlensäcke geschleppt, gewohnt hat er mit Frau und zwei Kindern in einem kleinen Verlies in der Rue de Vaugirard, wo meine Tante Concierge war, bis sie eine moderne Wohnung in Bondy bekamen).
Es ist ein verschwundenes Paris: In der Rue de Vaugirard können sich Geringverdiener längst keine Wohnung mehr leisten; aus den östlichen Vorstädten der Banlieues wie Bondy oder Bobigny, die schon bald Problemstädte geworden sind, zieht weg, wer nicht maghrebinischer Herkunft ist und wer die Mittel dazu hat. Die Krankenschwestern, Zimmermädchen und Physiotherapeuten drängen sich heute jeden Tag in den RER, der sie in ihre Schlafstädte jenseits von Saint Denis, La Défense oder Créteil bringt.
Ein zweiter Eindruck: die Reihe der livres de poche im Regal meines Vaters, darunter vier von Marcel Pagnol: „Topaze“, „Marius“, „Fanny“ und „César“ – auf den Umschlägen der letzteren, koloriert gezeichnet, die Hauptfiguren der Stücke am Quai des Mittelmeers stehend oder am Tresen der Hafenkneipe lehnend: für den vokabelgeplagten Schüler anzusehen wie Verheißungen eines freien, eines ungebundenen Lebens. Pagnol ist – nach den viel älteren Frédéric Mistral und Alphonse Daudet und mit dem gleichaltrigen Jean Giono – der Dichter der Provence schlechthin; Marius, Fanny und César (die „Trilogie Marseillaise“) haben ihn als Theaterautor berühmt gemacht, wurden verfilmt und zu einem gleichnamigen Musical umgearbeitet, das in New York Triumphe feierte. Geboren wurde Pagnol vor 130 Jahren, am 28. Februar 1895; seine Stücke und Filme (darunter Klassiker des französischen Kinos wie „Angèle“, „Das Mädchen und der Scherenschleifer“ oder „Die Frau des Bäckers“) oszillieren zwischen Drama und Komödie, Liebe und Verzweiflung, Romantik und Realismus – am Ende steht meist die Einsicht in die Zwiespältigkeit der menschlichen Natur und das Annehmen des Lebens, wie es nun einmal ist. Der Dichter wurde berühmt, war Mitglied der Académie Française und blieb doch seiner Heimat, dem Dörfchen La Treille (heute ein Stadtteil von Marseille) treu, wo er 1974 auch begraben wurde.
Ich habe die Trilogie Marseillaise nie auf der Bühne gesehen, aber ich habe den Dichter und seine Welt kennengelernt, als ich später seine zwischen 1957 und 1959 entstandene autobiographische Romantrilogie „Eine Kindheit in der Provence“ las: „Der Ruhm meines Vaters“, „Das Schloss meiner Mutter“, „Marcel und Isabelle“. Es ist die Geschichte eines intelligenten Jungen, der die langen Sommerferien gemeinsam mit Eltern, Tante und Onkel in einem kleinen Häuschen auf dem Lande verbringt, mit allen den kleinen und großen Freuden und Schmerzen, die das Zusammenleben mit sich bringt, mit Freundschaft und erster Liebe, mit Verrat und Enttäuschung – kein Idyll, aber die Unmittelbarkeit eines Lebens mit der Natur, wie sie in unserem Social-media-Zeitalter kaum noch vorstellbar ist: auch eine verschwundene Welt. Am meisten beeindruckt hat mich die Gestalt des Vaters: Er verkörpert unaufdringlich, aber überzeugend den Typus des französischen Volksschullehrers: aufgeklärt und antiklerikal, ohne fanatisch zu werden, voller Glauben an Fortschritt, humanité und civilization – ein stolzer Republikaner, der das Prinzip der égalité in der Schule darin Wirklichkeit werden lässt, dass er jede und jeden ihren Begabungen entsprechend zu fördern versucht. Dieser Geist ist nicht verschwunden; in unseren Tagen steht für ihn stellvertretend Samuel Paty, der sein Eintreten für das Recht auf Meinungsfreiheit an seiner Schule nördlich von Paris im Oktober 2020 mit dem Leben bezahlte.
Pagnols Kindheitserinnerungen waren – sind sie es noch? – in Frankreich Schullektüre: Die Welt, die sie beschreiben, hat sich radikal verändert. Ob schließlich der Optimismus von Pagnols Vater die Oberhand gewinnen oder eine Mehrheit der Gesellschaft den bequemen Weg der Unterwerfung gehen wird, wie ihn Michel Houellebecq in seinem gleichnamigen Roman schildert, oder ob der Konflikt zwischen beiden Konzepten noch für lange Zeit zu blutigen Auseinandersetzungen mindestens in den Banlieues führen wird – wer weiß? Aber man wird an der Seite Pagnols träumen dürfen – denn wie es am Beginn der ersten Folge von Belphégor heißt: „Die heutige Welt braucht Träume ebenso notwendig wie Realitäten“.
Zu Belphégor und Juliette Greco siehe auch Blättchen 22/2012.
Schlagwörter: Belphégor, Frankreich, Hermann-Peter Eberlein, Juliette Greco, Louvre, Marcel Pagnol