27. Jahrgang | Nummer 23 | 4. November 2024

Zeitgeist. Kommen. Gehen

von Eckhard Mieder

Der Zeitgeist, wenn er baden geht, tut dies

mit viel délicatesse. Er zupft am Haar sich und an

der Badehose vorn (er ist ein Mann, cis), tunkt seine Zehen

in den See, prüfend, ob die Temperatur ein Eintauchen

erheischt, dann lugt er unter der Achsel (unrasiert) zum Ufer: zum

Publikum, ob es ihm applaudiert, goutiert, ihm

nacheifern will: aufm Sprung und eingecremt die Leute.

Dann wagt er zierlich einen ersten Schritt. Ein

Tänzer im lauen Wind, der aus dem Wald am Ufer

übers Wasser streicht und säuselnd feine Wellen

pustet, mit einem zweiten, dritten Schritt, bis er

zum Bauche drinnen steht: in der warmen Jauche,

in der sein Glied schrumpft, seine Haut schrumpelt;

aber aufrecht lächelnd dreht er sich um und winkt.

Ob sie ihm folgen sollen? Ob er sie nur grüßen will?

Das Publikum steht da und fragt sich was.

Bis der eine sich löst und an das Wasser tritt,

wo‘s Nasse grad die Fußspur des Vorgängers löschte.

Noch zögert er, noch zieht es ihn nach vorne nicht

und nicht nach hinten. Er prüft mit seinen Zehen, ein

Imitator desjenigen, der vor ihm längst abgetaucht ist, den See.

Doch niemand sieht es. Das Publikum hat sich

abgewandt, einem Wesen zu, das aus dem Wald tritt,

die Hände erhoben, den Kopf gen Himmel, wie ein

Wanderprediger vielleicht, und es singt: „Ich bin

Der Zeitgeist! Ich bin der Neue!“ Und siehe,

er ähnelt den Untergegangenen aufs Haar, was aber

niemand bemerkt, weil jeder das Andere sehen will,

das hinter dem Neuen im Gebüsch hockt und sich nun

aufrichtet, um abzuwarten, bis der vor ihm übern Strand

ans Ufer tritt, die Zehen prüfend ins Wasser tunkt

wie einen Keks in den Tee gegen fünf Uhr nachmittags,

obwohl es frischer Morgen ist, noch unentschieden

das Wetter – aber wir liegen im Gras und freuen uns

über den Wechsel der Geister; sie bringen immer was mit

für uns, diese Weihnachtsmänner der Geschichte, denen wir

folgen wie die Kinder dem Rattenfänger von H (cis?).