27. Jahrgang | Nummer 25 | 2. Dezember 2024

Neoptolemos. Das Märchen

von Eckhard Mieder

Auch der Sohn eines Helden muss kotzen,
Wenn er das Meer nicht verträgt und die Insel
Betritt, noch dazu mit einem Auftrag versehen,
Den er nicht versteht und der nur mit dem Tod enden kann:
Entweder für ihn oder für den verratenen Mann.

Auch der Alte, der ihn führt und beteuert hat,
Dass sie den Mann von der Insel brauchen und er,
N., sei der Mann, dem es gelingt, den Kranken
Anzuheuern für den Krieg, der ginge sonst verloren,
Vor sich hin blutend, vor zehn Jahren geboren.

Zweifelnd zwischen dem, was richtig, was nötig, was
Hohles Versprechen, was Arglist ist und was Verrat,
Lässt N. sich darauf ein und besucht des Mannes Höhle.
Schwer liegt nicht nur die Seefahrt im Magen:
Was kann so ein junger Held an Wahrheit ertragen?

Nichts in der Höhle weist darauf hin, dass es den Mann
Noch gibt. Ist er gesundet, verheilt die schwärende Wunde,
Deretwegen ihn die Kameraden einst aussetzten,
Wird er wohl irgendwo auf der Insel leben;
Ist er gestorben, kann er keine Kunde mehr geben.

Gut. Er lebt. Er zeigt sich, und N., dem Plan des Alten
Folgend, verleugnet diesen, um das Vertrauen zu gewinnen
Des Mannes mit der Geheimwaffe, die es braucht
Für den Krieg; entweder gewinnt N. den gesunden Mann
Oder er kommt an dessen Bogen und Pfeile ran.

Um es kurz zu machen: Der Mann, Philoket geheißen,
Lässt sich auf das Abkommen ein. Obwohl er, erfinden wir,
Ein gutes Lebens führte, zehn Jahre lang, auf Lemnos;
Warum er in den Krieg folgte? Vielleicht war er ein Patriot,
Und was ein guter Patriot ist, der geht gern in den Tod?

Wir versehen das alles mit einem Fragezeichen, weil es
Nicht so gewesen sein muss, wie Homer, der beste, wenn auch
Nicht erste Märchenerzähler aller Zeiten, uns erzählt. Ihm nach
Siegten dank Philoktet die Griechen vor Troja, um dann
Sanglos zu verschwinden in den Schlachten der Welt: als tapferer Mann.

Wir aber, liebe Kinder, erzählen eine andere Geschichte,
Ein anderes Ende. Philoktet nämlich war nicht dämlich. Er hatte
Auf Lemnos eine Familie gegründet, Frau und zwei Kinder.
Zehn Jahre sind ausreichend Zeit, sich zum Menschen zu steigern
Und sich jedem Krieg zu verweigern.