Vor 70 Jahren, im November 1954, wurde die Babelsberger Filmhochschule gegründet – seit 2014 heißt sie Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Bis heute ist sie die größte Filmhochschule Deutschlands. Zu ihren Absolventen gehört Rainer Simon, der einzige DEFA-Regisseur, der je mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet wurde (1985 für den Film „Die Frau und der Fremde“). Um Erinnerungen an seine Studienzeit gebeten, verfasste Simon den folgenden Text:
Deutsche Hochschule für Filmkunst – so hieß die Babelsberger Filmhochschule, als ich an ihr zu studieren begann. Als ich Ende August 1961 dort ankam, hatte gerade zwei Wochen zuvor der Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“ begonnen. Direkt auf der Wiese hinter der Hochschule in der Karl-Marx-Straße am Ufer des Griebnitzsees waren die Bauarbeiten im Gange und Soldaten patrouillierten. Vom Westberliner Ufer schrie eine Lautsprecherstimme zu uns herüber. Wozu sie uns aufforderte, weiß ich nicht mehr. Die Studenten der vorherigen Jahre bedauerten, dass sie nun nicht mehr nach Westberlin ins Kino fahren konnten. Für mich war der Westen eine unbekannte Welt. Wieso war ich hier an dieser Filmschule?
Ich kam aus einer sächsischen Kleinstadt, ich kam aus keiner künstlerisch vorbelasteten Familie und merkte bald, dass die meisten meiner Regie-Kommilitonen aus ähnlichen Familien stammten, niemand von uns hatte sein Studium Privilegien der Eltern zu verdanken. Drei Filme waren es, die mich auf die Idee gebracht hatten, mich für diesen Beruf zu bewerben, die sowjetischen Anti-Kriegs-Filme „Die Kraniche ziehen“ von Michail Kalatosow und „Das Haus, in dem ich wohne“ von Lew Kulidshanow und Jakow Segel, die mit für mich faszinierend neuen filmischen Mitteln den Krieg als das zeigten, was er ist, Mord. Sowie der französische Film „Wenn alle Menschen der Welt …“ von Christian-Jaque, in dem es um internationale Solidarität ging.
Ich erinnere mich noch an die letzten Kriegstage und an die Zeit danach. Wir gingen Kartoffeln stoppeln und Ähren lesen und holten zum Heizen Reisig aus den wie leergefegten Wäldern. Wobei das für mich als Kind, der ich nichts anderes kannte, weit weniger schmerzlich gewesen sein muss als für meine Mutter und meine Großmutter. Geprägt hat mich dies. Ich wurde nicht von klein auf an Wohlstand gewöhnt. Darüber bin ich heute froh.
Kurz vorm Studium im Juni 1961 reiste ich am Ende der Armeezeit mit einer Jugendtourist-Gruppe in die Sowjetunion. Von Moskau auf einem Schiff die Wolga hinunter bis nach Wolgograd. Immer wenn wir anlegten, wurden wir herzlich empfangen. Ich fand das ganz normal, schließlich hatte ich nichts mit den Verbrechen zu tun, welche die Deutschen hier begangen hatten, und für Kriege hatte niemand in meiner Familie etwas übrig, mein Großvater war schon m Ersten Weltkrieg ermordet worden. Den Rest hatten wir in der Schule gelernt. Ich wusste vom Holocaust, alle meiner Generation wussten davon, lange bevor der amerikanische Film solch Aufsehen erregte. Wo lebten die im Westen denn?
Das erste Jahr an der Filmhochschule verlief enttäuschend. Ich hatte gehofft, von Leuten unterrichtet zu werden, deren Filme ich bewunderte, von Konrad Wolf oder Frank Beyer etwa, die aber hatten Besseres zu tun, sie drehten Filme. Das Filmmaterial, das den Studenten pro Jahr zur Verfügung stand, war knapp, so drehten wir in der Freizeit untereinander Filmchen mit unseren 8-mm-Kameras. Mit uns acht deutschen Studenten studierten auch zwei Ausländer, einer kam aus dem Irak, der andere aus Spanien, sie waren etwas älter, wussten viel mehr von der Welt und waren für mich ganz wichtige Partner.
Es wurde viel gesellschaftswissenschaftlicher Kram gelehrt, das war halt so.
Eigentlich ist mir aus dem 1. Studienjahr nur ein Dozent in Erinnerung geblieben: Es gab auch das Unterrichtsfach Zeichnen, wir fragten uns warum? Edmund Kesting war unser Lehrer, ich hatte keine Ahnung, wer der ältere Herr war. Wahrscheinlich hatten freundliche Zeitgenossen, ihm, dessen Kunst damals nicht erwünscht war, diesen Brotjob verschafft. Ich glaube, er langweilte sich mit uns und ließ uns Kreise und Striche zeichnen. Immer wieder betonte er, in der Kunst käme es auf Polarität an. Die zwei Seiten in jeder Sache, so nannten das später südamerikanische Schamanen. Dem ersten Blick, der ersten Idee zu misstrauen! Später habe ich, wenn ich ein Drehbuch schrieb, eine Szene entwickelte und inszenierte, meine erste Idee immer verworfen. Es würde immer noch eine bessere geben.
Am Ende des 1. Studienjahrs forderten wir energisch neue Regie-Dozenten. Wir setzten unsere Forderungen bei der Hochschulleitung durch und bekamen Ralf Kirsten, er hatte gerade „Auf der Sonnenseite“ und „Beschreibung eines Sommers“ gedreht. Kirsten bezog uns ein in seine Arbeit und in sein Denken. Er behandelte uns nicht als Lehrer, sondern sprach mit uns wie mit künftigen Kollegen. Ich hatte später das Glück, als Regie-Assistent bei seinem Barlach-Film „Der verlorene Engel“ mitarbeiten zu können, der zu den Filmen gehörte, die von außer Rand und Band geratenen Funktionären verboten wurden. Doch noch ging es aufwärts. Aus der Sowjetunion kamen Filme der „Tauwetter“-Periode – „Neun Tage eines Jahres“ von Michail Romm, „Klarer Himmel“ von Grigori Tschuchrai und „Iwans Kindheit“, der erste Film von Andrei Tarkowski –, die uns Hoffnung machten. Allerdings erreichten mich nach dem 22. Parteitag der KPdSU auch erstmals Nachrichten über die Verbrechen, die in der Sowjetunion in der Stalinzeit begangen wurden. Bis dahin hatte ich davon nicht die geringste Ahnung. Ich erinnere mich, wie ich mit meinen Freunden Egon Schlegel und Dieter Roth nächtelang diskutierte, ob sich die Idee, eine gerechtere Welt zu schaffen, jemals davon würde erholen können oder ob die erbarmungslose kapitalistische Wirtschaftsordnung bar jeder Gerechtigkeit letztlich siegen würde.
1963 entschloss sich das SED-Politbüro zu einem Jugendkommuniqué, wonach das Verhältnis zur Jugend frei sein sollte von „Gängelei, Zeigefingerheben und Administrieren“. Wir nahmen das beim Wort, die Regiestudenten meines Jahrgangs gründeten zusammen mit Kamerastudenten das „Kollektiv 63“ und gaben bekannt, dass wir nichts anderes als realistische Gegenwartsfilme über das Leben in der DDR drehen wollten. Die Betonung lag auf dem Wort realistisch, das Leben so zeigen, wie es ist, nicht wie Funktionäre es sich wünschen. Ich drehte meinen Abschlussfilm des 3. Studienjahres „Die Überzeugungsmethode“ nach einer Erzählung des tschechoslowakischen Autors Ludvik Askenazy. Ein Junge wirft beim Fußballspielen eine Fensterscheibe ein, worauf sein Vater ihm einen ausführlichen Vortrag hält, warum man keine Scheiben einschmeißen darf, im Allgemeinen und im Besonderen, und was das für Folgen haben könnte. Er wendet die Überzeugungsmethode an. Der Junge bittet den Vater darum, ihm doch lieber eine Ohrfeige zu geben, damit er weiter spielen kann. Der Kurzfilm wurde im Fernsehen gesendet, leider gibt es keine Kopie mehr davon, und auch das Negativ ist verschwunden. Doch den Film sah ein Dramaturg des DEFA-Spielfilmstudios und bot mir ein Drehbuch nach Friedrich Wolfs Kurzerzählung „Peterle und die Weihnachtsgans Auguste“ an, und so wurde dieses Projekt mein Diplomfilm.
Mit unserem „Kollektiv 63“ hatte das Filmchen wenig zu tun. Aber es war die Chance, eine Planstelle im Spielfilmstudio zu bekommen. Den Film drehte ich schon zu Beginn des 4. Studienjahres, er lief Weihnachten 1964 im Fernsehen. Nun hatte ich das weitere letzte Studienjahr frei, und es begann meine wichtigste Zeit an der Filmhochschule: Ich sah mir Filme an.
Während all der Jahre waren für mich jene Montage, an denen in der Hochschule ausländische Filme gezeigt wurden, aus West und Ost, die dem DEFA-Außenhandel angeboten wurden, aber oft nicht in die Kinos kamen, die Höhepunkte meines Studiums. Es eröffnete sich mir eine neue Welt: Die Filme von Antonioni, Fellini, Visconti, de Sica, Truffaut, Godard, Bresson, Resnais, Buñuel, Kurosawa, Orson Welles, Lindsay Anderson … genauso die von Andrzej Wajda aus Polen und die ersten Filme des neuen tschechoslowakischen Kinos von Forman, Nemec, Brynych, Jasny, Kadar und Klos … Diese und ähnliche Filme bestellte ich mir immer wieder und sah sie mir genau an. Das war möglich, sofern sich Kopien im Staatlichen Filmarchiv oder beim Progress-Filmverleih befanden.
In jenem ersten Halbjahr 1965 begann ich die Welt mit anderen Augen zu sehen. Von Beginn meines Studiums an war klar, ich wollte mit meinen Filmen etwas bewirken, im Sinne von Brecht, den ich als die große Persönlichkeit im Hintergrund nicht vergessen will. Wir, viele von uns, nicht alle, lebten damals in einer Zeit, wo wir hofften, mit Filmen, Büchern, Bildern, Musik etwas verändern zu können, zum Besseren. Die neuen Inhalte brauchten auch neue Formen, das war klar, und ist es mir bis heute, Kino in den alten Latschen verachtete ich. Deshalb sehe ich mir heute selten neue Filme an, Ausnahmen gibt es. Die Leute nur zu unterhalten, so seicht wie möglich, damit so viele wie möglich ins Kino kommen, war nie der Grund, weshalb ich diesen Beruf ergreifen wollte. Ich wollte und betone das hier zum weiß ich wievielten Male, dass die Zuschauer mit ihren Gedanken zwischen die Bilder kommen. Obwohl das für heutige Filmemacher eine existenzgefährdende Aussage ist. Bin ich ja aber zum Glück nicht mehr. Weder Fernsehredakteuren noch Fördergremien muss ich mich andienen. 1990 habe ich gesagt: „Ich habe in der DDR nicht jeden Mist gedreht, ich werde es auch im Westen nicht tun.“
Zurück ins Jahr 1965, in dem ich mein Diplom und einen Vertrag im DEFA-Spielfilmstudio bekam. Im Herbst begann ich meinen ersten Spielfilm „Die Moral der Banditen“ nach dem bekannten Jugendbuch von Horst Bastian vorzubereiten. Es ging um renitente Jugendliche, die sich gegen die faschistische Vergangenheit ihrer Eltern und Lehrer auflehnten, aber auch gegen die Bevormundungen in der neuen Zeit. Das Drehbuch war fertig, wir wollten im Januar 1966 zu drehen beginnen. An einem Tag im Dezember 1965 waren Probeaufnahmen mit Jugendlichen geplant. Ich kam früh ins Studio und das Casting war über Nacht abgesetzt worden. Am Tag vorher hatte das 11. Plenum des ZK der SED stattgefunden. Im Studio tat man so, als hätte es unser Filmprojekt nie gegeben. Sie hatten genug zu tun mit den fertigen Filmen, die man nun alle über einen Kamm schor und blödsinnigste Verbote aussprach, auch vorauseilender Gehorsam untergeordneter Leitungs-Kader spielte dabei keine geringe Rolle. Die Zeit jenes Jugendkommuniqués war schnell wieder vorbei.
Wie mich traf es auch meine Freunde Egon Schlegel und Dieter Roth, ihr Diplomfilm „Ritter des Regens“ war zu dreiviertel abgedreht, und der Rest und die Endfertigung sollten vom DEFA-Spielfilmstudio finanziert und übernommen werden. Es wurde sofort gestoppt. Alles Material verschwand, auch das Negativ, und tauchte nie wieder auf. Wessen vorauseilendem Gehorsam ist das zu verdanken?
Die beiden waren arbeitslos, was es in der DDR eigentlich nicht gab. Egon Schlegel kam in der „Gruppe Thorndike“ unter. Es dauerte zehn Jahre, bis er es doch noch zum Spielfilm schaffte und ein paar gute Kinderfilme wie „Das Pferdemädchen“ drehen konnte. Für Dieter Roth begann eine Odyssee durch eine Menge Theater der DDR. Bis nach 1990 versuchte er es immer wieder, zum Film zurückzukommen. Es kam nicht zustande.
Ich hatte Glück, im Sommer 1966 bot man mir an, einen Dokumentarfilm über die Pionierrepublik am Werbellinsee zu drehen, wo sich jedes Jahr Kinder aus aller Welt trafen. „Freunde vom Werbellinsee“ heißt er, wurde aber kein Dokumentarfilm, sondern erzählt die Geschichte einer Freundschaft von drei Kindern, die sich dort entwickelt, zwischen einem Jungen aus der DDR, einem aus der Mongolischen Volksrepublik und einem Mädchen aus Guinea in Afrika. Heute kommt mir der Film vor wie ein schöner Traum.
Leider ist die Welt nicht so geworden.
Schlagwörter: