27. Jahrgang | Nummer 24 | 18. November 2024

Distel – Genese eines Schriftzugs

von Jürgen Klammer

„Sie schickt uns der Himmel!“ sagte Distel-Direktor Erich Brehm zu der jungen Ruth Altmann, als sie ihm ihre Studienarbeit zeigte. Die Leipziger Grafik-Studentin war mit ihrer Seminargruppe im Frühjahr 1956 nach Berlin gefahren, um in der Nationalgalerie die Ausstellung der wenige Monate zuvor von der Sowjetunion an die DDR zurückgegebenen Kunstwerke aus Moskauer Beständen zu besuchen.

Mitstudent Helmut Horn riet seiner Kommilitonin, das von ihr im Rahmen einer Seminararbeit entwickelte Plakat mitzunehmen. Vielleicht fände sich Gelegenheit, es Jemandem vom Kabarett Die Distel zu zeigen. Schließlich hätten es Albert Kapr und Wolfgang Mattheuer für gut befunden.

Und so begaben sich beide mit dem vorsorglich eingepackten A1-Plakat in die Kronenstraße 8, denn dort befand sich die Leitung des Kabaretts. Frau Heinrichs, Sekretärin des Chefs, wimmelte sie keineswegs ab. Nach kurzer Rückfrage schickte sie die Studenten in das Zimmer des Direktors. Erich Brehm ließ sich das Plakat zeigen. Er erkannte sofort, der studentische Entwurf unterschied sich wesentlich von den Plakaten seiner bisherigen Programme. Besonders der Schriftzug DISTEL, gleich viermal in Weiß, Gelb, Türkis und Violett quer und leicht schräg von unten nach oben auf schwarzem Grund aufsteigend und auf das ganze A1-Hochformat verteilt, faszinierte ihn. In einem Zacken des „türkisen DISTEL-I“ flattert an einem gelben Band ein kleines grellrotes Blatt mit in weiß gehaltener Aufschrift „Friedrichstadtpalast“. Oben links steht in weißen Buchstaben „betreten sein verboten …“, ein von der Studentin ausgedachter Dummy-Titel, rechts unten in roten Großbuchstaben „DAS BERLINER SATIRISCHE KABARETT“.

Ruth Altmann wurde im November 1930 in Pötzscha als Tochter einer Gastwirtfamilie geboren. Schon ihre Großeltern betrieben das direkt am Bahnhof und unweit der Elb-Fähre nach Stadt Wehlen gelegene „Bahnhotel“. Sie wuchs auf zwischen Hotelküche und Biergarten, zwischen Sportplatz und Elbe und inmitten der von Hügeln umgebenen Elbschleife zwischen Struppen, Rathen und Königstein. Nach vier Jahren Volksschule im nahegelegenen Naundorf wechselte sie im September 1941 zur Kreisoberschule Pirna, wo sie acht Jahre später ihr Abitur ablegte. Sie wollte unbedingt Kamerafrau werden, hatte sie doch schon als junges Mädchen im Wehlener Kino auf der anderen Elbseite ausgeholfen und ihre Neigung zum Filmemachen entwickelt. Sie bewarb sich in Dresden bei der DEFA-Produktion Sachsen. Da jedoch der Standort Dresden gerade seinen Umzug nach Potsdam-Babelsberg vorbereitete gab ihr der dort als Regisseur und Kameramann tätige Richard Groschopp den Rat, zunächst eine Lehre bei der DEWAG zu absolvieren, dort werden ebenfalls Werbefilme gedreht. Alles Weitere würde sich finden.

So begann die junge Frau im September 1949 bei der DEWAG Werbung in Dresden-Neustadt eine Lehre als grafischer Zeichner, die sie drei Jahre später erfolgreich abschloss. Die Mitarbeit an Werbefilmen kam nicht zustande. Die DEWAG hatte inzwischen deren Produktion eingestellt. So verlegte Ruth Altmann sich aufs Fotografieren und Zeichnen. In ihrer Freizeit besuchte sie diverse Kurse der Volkshochschule und an der Dresdner Akademie.

Sie wollte sich weiterentwickeln, hatte ihr doch auch die Personalabteilung der DEWAG in einem Antrag für ein Studium an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst neben einer „fortschrittlichen Auffassung“, Ideenreichtum und Lernfreudigkeit bescheinigt. Nach bestandener Aufnahmeprüfung begann sie im September 1952 das Studium, Fachrichtung Gebrauchsgrafik. Ihre Studienfächer waren Kulturgeschichte, Figürliches Zeichnen, Malen, Naturstudium, Schrift und – wie an allen Hochschulen und Universitäten – Russische Sprache und Marxismus-Leninismus.

Im Verlauf des Studiums wurde für sie das Fach Schriftgestaltung zum Schwerpunkt. Wie ihre Kommilitonen kopierte sie alte Schriften, fertigte Schriftsätze für eigene Druckarbeiten, lernte die verschiedene Schreibmaterialien kennen. Auch sie schnitt sich einige ihrer Zeichenutensilien aus Gänsefedern. Das war schon eine intensive Grundausbildung.

Im sechsten Semester bekamen die Studenten des Bereichs Schrift die Aufgabe, themenbezogene Schriftzüge zu entwickeln – Inhalt und Form sollten in überzeugender Weise in Übereinstimmung gebracht werden. Und da kam der inspirierende Zufall ins Spiel. Zu Beginn des Semesters hatte Ruth Altmann mit ihrer Seminargruppe ein Gastspiel des Kabaretts Distel besucht. Das Ensemble aus Berlin gastierte regelmäßig in der Messestadt, so auch am 2. März 1955 im Weißen Saal des Leipziger Zoos. Die Studentin war von dem Kabarettprogramm beeindruckt. Vor allem der Name Distel ging ihr nicht aus dem Kopf. Distel, Distel, Distel … Wieder und wieder schrieb sie diesen Namen mit einer elastischen Feder in einer Vielzahl von Varianten in Tusche auf Büttenpapier. Ihr künstlerischer Betreuer an der Hochschule, der damalige Assistent Wolfgang Mattheuer, wählte einige der Entwürfe aus. Mit Verweis auf einzelne Buchstaben meinte er, hier noch ein bisschen mehr in die Länge und da noch etwas breiter, so Ruth Altmann Jahrzehnte später. Mattheuer sei zunehmend begeistert gewesen. Er habe sie so mit dieser Schrift auf den richtigen Weg gebracht.

Der für die Schriftgestaltung an der Hochschule verantwortliche Typograf Professor Kapr war von den Entwürfen ebenfalls angetan. Er wählte zwei der Schriftzüge aus und empfahl, in Verbindung mit der Schrift ein Plakat zu entwerfen. So entstand die Reinzeichnung des Plakats im Format A-1, mit dem Ruth Altmann einige Monate später bei Distel-Direktor Erich Brehm vorstellig wurde.

Mit einem mündlichen Auftrag von Brehm für das Plakat des Herbstprogramms ausgestattet, fuhr die Studentin zurück nach Leipzig. Bei all der Freude war ihr nicht bewusst, dass in diesem Frühjahr nicht nur die Satiriker in der DDR durch die Geheimrede von Nikita Chruschtschow auf dem XX. KPdSU-Parteitag in Moskau zunächst aufgeschreckt und verunsichert waren, dann jedoch selbstbewusster und aufmüpfiger wurden. Auch in den Kabarett-Programmen waren neue Töne zu vernehmen. „Rührt Euch, sonst werdet Ihr weggetreten!“ rief Conny Reinhold auf der Bühne der Leipziger Pfeffermühle. „Es ist mit dem Personenkult vorbei!“ jubilierte Herbert Köfer in der Distel.

Alle Plakate des Berliner Kabaretts in diesen Jahren des nicht nur kulturpolitischen „Tauwetters“ stammen von Ruth Altmann. Und obgleich der jungen Studentin die Bedeutung der damaligen Aufbruchstimmung im gesamten Ostblock nicht bewusst war, ihre Entwürfe zeichnen sich durch eine hohe künstlerische Gestaltung aus. Besonders das Plakat zum zehnten Distel-Programm „Wohin rollst Du, Erdäpfelchen?“ (Premiere am 11.10.1957) gilt gestalterisch als besonders gelungen. Halbverdeckt durch einen Bühnenvorhang schaut ein selbstbewusstes Eselchen auf die vor ihm rollende Erdkugel. Auf dem Umschlag des ebenfalls von Ruth Altmann gestalteten Programmhefts ist in angedeutetem Bühnenrahmen das kecke Eselchen vollständig abgebildet, eine lachende Distelpflanze hinter sich herziehend.

Insgesamt sechs Plakate hat Ruth Altmann während ihrer Studienzeit für die Distel erstellt. Mit dem Entwurf für das Programm „Kein Platz für milde Satire“ (Premiere am 21.11.1958) endet ihre Tätigkeit für das Kabarett. Die Plakate und der Distel-Schriftzug waren Bestandteil ihres im Sommer 1958 mit Auszeichnung abgelegten Diploms. Sie arbeitete fortan als fest angestellte Werbegrafikerin bei der DEWAG Berlin. Gern hätte sie weiter für die Distel oder andere kulturelle Einrichtungen gearbeitet, eine nebenberufliche Tätigkeit als freiberufliche Grafikerin wurde ihr jedoch vom Arbeitgeber untersagt.

Der von Ruth Altmann entworfene Schriftzug Distel veränderte sich im Verlaufe der Jahre. Auf vielen Plakaten in der mittlerweile 70-jährigen Geschichte des Berliner Kabaretts fehlt er ganz. Erhalten geblieben ist ein „in die Jahre gekommenes Signet“. Der Schriftzug ist fülliger geworden, die scharfen Kanten haben sich abgeschliffen, es fehlt die Spannung, das Angriffslustige, das Spitze. Es fehlt ihm das, was Satire ausmacht, scharf und kompromisslos zu sein, aggressiv-ironisch zu Übertreiben und die als negativ empfundenen Zustände der Lächerlichkeit preiszugeben, sie zu negieren und zumindest moralisch zu töten.

Beim Betrachten der zahlreichen Distel-Plakate finden sich viele grafische Meisterleistungen. Paul Rosie, Werner Klemke, Helmut Merten, Manfred Bofinger, Barbara Henninger und andere haben qualitativ hochwertige Plakate geschaffen. Der Schriftzug Distel ist geblieben, hat sich jedoch im Verlaufe der Jahre verändert. Ruth Altmann resümiert: „Das ist nicht mehr mein Entwurf!“