27. Jahrgang | Nummer 21 | 7. Oktober 2024

Vatikanisches Panoptikum

von Arthur G. Pym

 

In Rom Reformen durchzuführen heißt gleichsam,

die Sphinx mit einer Zahnbürste zu putzen.

 

Papst Franziskus,
beim Weihnachtsempfang 2017

 

Den Nachweis dafür, dass die Päpste während der meisten Zeit, seitdem diese Amtsbezeichnung dem Bischof von Rom vorbehalten ist, also immerhin seit dem fünften Jahrhundert, einer Institution vorstehen, die man als größten sowie anhaltendsten Herd von Clankriminalität weltweit bezeichnen muss, hat Karlheinz Deschner in seiner ebenso minutiös wie wissenschaftlich fundiert recherchierten „Kriminalgeschichte des Christentums“ geführt. Zehn Bände, der erste erschien 1986 und die wenigsten umfassen unter 500 bis 700 Seiten. Wegen des fortgeschrittenen Alters sowie gesundheitlicher Probleme des Autors – er verstarb 2014 im 89. Lebensjahr – endet dieses Opus Magnum leider im 18. Jahrhundert.

Ob Deschner für seine Arbeit je Zugang zu vatikanischen Archiven erhielt, war für den Rezensenten zwar nicht zu ermitteln, darf aber bezweifelt werden. Hatte der Autor doch schon 1962 mit „Abermals krähte der Hahn“, einem inzwischen längst als kirchenkritisches Standardwerk geltenden 700-Seiten-Wälzer, keinen Zweifel daran gelassen, wes Geistes Kind er ist.

Ohne Zugang zum sogenannten Apostolischen Archiv hingegen, der keineswegs einzigen, aber doch der größten Quellensammlung der Päpste, hätte Hubert Wolf, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster, sein jüngstes Buch „Die geheimen Archive des Vatikan“ gar nicht verfassen können. Dieses Apostolische Archiv wurde 1612 durch Papst Paul V. errichtet. Die ältesten Quellen reichen bis ins achte Jahrhundert zurück. Der Gesamtbestand umfasst inzwischen 85 laufende Kilometer Akten.

In zehn Kapiteln entfaltet der Autor ein thematisch breit gefächertes Panoptikum.

Allein drei Kapitel sind Eugenio Maria Giuseppe Giovanni Pacelli gewidmet, der sich als Papst Pius XII. nannte und dessen militant antikommunistisches Weltbild maßgeblich aus schockierendem privaten Erleben der Münchner Räterepublik von 1919 herrührte, als er Nuntius (Vertreter des Vatikan) in der Stadt war: „Spartakistische Revolutionäre drangen in die Nuntiatur ein, hielten Pacelli buchstäblich die Pistole an den Kopf und verlangten die Herausgabe des eleganten Dienstwagens […]. Pacelli war geradezu traumatisiert.“ Da niemand für seine Sicherheit garantieren konnte, absentierte er sich in die Schweiz. „Kommunismus hieß für ihn fortan: Chaos, Mord und Totschlag, Gefahr für jede Ordnung in Staat und Kirche, Untergang des christlichen Abendlandes. […] Deshalb sah er Hitler als Bollwerk gegen den Bolschewismus und hielt sich mit Verurteilungen der nationalsozialistischen Verbrechen zurück.“

Dass Pius XII. heute in dem Ruf steht, jener Papst gewesen zu sein, der während des Zweiten Weltkrieges zum Holocaust schwieg, wäre daher zwar folgerichtig, aber nicht im Sinne üblicher abendländischer Aufarbeitung kirchenhistorischer Abläufe gewesen. Dies im Falle Pacellis ein für alle Mal zu ändern, blieb einem Nestbeschmutzer vorbehalten, dem westdeutschen Dramatiker Rolf Hochhuth. Erst durch dessen Stück „Der Stellvertreter“ von 1963 wurde die inhumane Ungeheuerlichkeit des XII. Pius ins Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit gehoben.

Zuvor (und auch danach) war jahrzehntelang von der Katholischen Kirche und ihren Adepten unter anderem mit der Schutzbehauptung operiert worden, Pius XII. hätte schlicht nichts gewusst von den Gräueltaten der deutschen Faschisten am jüdischen Volk. Eine andere Schutzbehauptung operierte mit der päpstlichen Weihnachtsbotschaft von 1942, in der die Rede des Papstes von „Hunderttausenden“ gewesen sei, „die – persönlich schuldlos – bisweilen nur wegen ihrer Nationalität oder Abstammung dem Tode geweiht oder einer fortschreitenden Verelendung preisgegeben“ seien. Folglich habe der Papst Stellung bezogen. Hochhuth wurde als Lügner verunglimpft. Wolf hingegen führt den Nachweis, dass des Papstes „‘Schweigen‘ zur Schoah […] nicht auf Nichtwissen, sondern auf anderen Motiven“ beruhte. Der Autor schreibt: „Wenn man den Kontext genau analysiert, wird deutlich, warum Pius XII. in der Weihnachtsansprache 1942 die Juden nicht expressis verbis als Opfer nennen konnte. Die Nationalsozialisten hatten 1940/41 etwa eine Million katholischer Polen ermordet, und polnische Bischöfe und Gläubige hatten mehrfach einen öffentlichen Protest des Papstes gefordert. Dieser blieb aber aus. Nachdem Pius XII. zum Genozid an den katholischen Polen geschwiegen hatte, konnte er nun zum Genozid an den Juden ebenfalls nicht Klartext reden. […] Niemand – vor allem kein Katholik in Polen – hätte verstanden, wenn er für die Juden das tat, was er für die katholischen Polen nicht getan hatte.“

Weitere Kapitel des Buches befassen sich unter anderem mit:

  • dem Index der verbotenen Bücher. Seit 1559 führte der Vatikan im Bestreben einer Totalkontrolle des globalen Buchmarktes eine immer wieder aktualisierte schwarze Liste, „in der all die Werke verzeichnet waren, die Katholiken bei Strafe der Exkommunikation nicht lesen durften“. Ein Verdikt verhängt wurde zum Beispiel über den Roman „Onkel Toms Hütte“, weil von der Nicht-Katholikin, vulgo Ketzerin Harriet Beecher Stove verfasst. Die Schriften von Marx und Engels hingegen standen seltsamerweise nie auf dem Index.
  • der Erfindung des Zölibats. Die verpflichtende Vorschrift der Ehelosigkeit von katholischen Amtsträgern geht nicht nur nicht auf Jesus zurück, sondern es gebe dafür auch „weder eine eindeutige biblische Anordnung noch einen klaren Befund in der Tradition der Kirche“. Vielmehr ist einer der Ursprünge höchst profan: „Die Ehelosigkeit sollte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit sicherstellen, dass Geistliche die ihnen anvertrauten Kirchengüter nicht an ihre Kinder vererben konnten.“
  • der Unfehlbarkeit der Päpste. Die wurde überhaupt erst am 18. Juli 1870 „erfunden“, als auf dem Ersten Vatikanischen Konzil ein entsprechendes Dogma verabschiedet wurde. Von damals 24 deutschen Bischöfen hatten übrigens 19 dagegen votiert.

„Ich weiß, dass ich meinen Leserinnen und Lesern viel zumute“, meint der Autor auf einer Website der Uni Münster und empfiehlt: „Legen Sie sich das Buch auf den Nachtisch und lesen jeden Abend ein Kapitel. Und vielleicht gelingt es mir ja, Sie mit dem Virus der geheimen Archive anzustecken…“ Die Gefahr besteht durchaus.

 

Hubert Wolf: Die geheimen Archive des Vatikan. Und was sie über die Kirche verraten, C. H. Beck Verlag, München 2024, 240 Seiten, 26,00 Euro.