27. Jahrgang | Nummer 17 | 12. August 2024

Filioque

von Hermann-Peter Eberlein

Was für ein abseitiges Thema: Ende Mai trafen sich die Mitglieder der Internationalen Dialogkommission des Lutherischen Weltbundes und der orthodoxen Kirchen und erarbeiteten ein gemeinsames Papier zum „Filioque“. Künftig werde man wohl mit den Orthodoxen gemeinsam bekennen, so der lutherische Vorsitzende der Delegation, dass der Heilige Geist nicht „aus dem Vater und dem Sohn (filioque)“, sondern dass er „aus dem Vater“ hervorgehe.

Dahinter steht ein anderthalbtausendjähriger Konflikt zwischen der lateinischen (katholischen) Westkirche samt ihren protestantischen Ablegern einerseits und der griechischen (orthodoxen) Ostkirche mit ihren slawischen Tochterkirchen andererseits. Als man in der Spätantike die dogmatischen Formulierungen festzurrte, die sich aus dem Glauben an den einen Gott und zugleich an die Gottheit Christi und des Heiligen Geistes ergaben, schrieb man in das seither in fast allen christlichen Kirchen geltende Glaubensbekenntnis: „Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn zugleich angebetet und verherrlicht wird.“ In der westlichen Kirche wurde dieser Text ab dem fünften Jahrhundert dahingehend verändert, dass der Geist eben nicht allein aus dem Vater, sondern aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht – so steht es bis heute auch in den Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche.

Was für ein abseitiges Thema! Da verhandeln weltenthobene Spezialisten in kirchlichen Elfenbeintürmen über dogmatische Quisquilien, die außer Theologen niemand versteht und die niemanden interessieren. Oder steckt doch etwas hinter diesem Unterschied? Prägt er vielleicht die geistigen Traditionen West- und Osteuropas mehr, als es scheint?

Als wir 1980 im Seminar Hegels Religionsphilosophie lasen, erklärte mein späterer Doktorvater Hermann Timm, dass Hegels Dialektik ohne das abendländische filioque nicht denkbar sei. These – Antithese – Synthese, welch letztere in einem neuen Gang der Geschichte des Geistes wieder zur These mutiert und den dialektischen Prozess erneut anstößt: Diese Bewegung und Dynamik funktioniert nicht in einem statischen Modell. Das orthodoxe Paradigma aber ist statisch: Aus A gehen B und C hervor und alle drei bleiben, was sie sind; entsprechend ist die Wahrheit ewig und unveränderlich. Das westliche Paradigma: Aus A geht B hervor und aus A und B gemeinsam C hingegen birgt die Chance zu geschichtlicher Entwicklung, zu Wandel, zu Veränderung. Denn C ist zugleich das Ergebnis von als auch die Vermittlung zwischen

A und B.

Vermittlung ist dann auch einer der Kernbegriffe Hegelschen Geschichtsdenkens. Hegel verstand sich als Lutheraner – den Geist geschichtlichen Denkens hatte er im Tübinger Stift eingesogen, einer der bedeutendsten Pflanzstätten lutherischer Rechtgläubigkeit über Jahrhunderte hin.

Damit ist sicher nicht alles zu Hegel gesagt noch gar zu den Quellen und zur Entwicklung des westeuropäischen Geistes. Ob Timms These historisch in dieser Schärfe überhaupt haltbar ist, müsste zudem en détail überprüft werden. Immerhin scheint Konsens zu sein, dass das westliche Postulat, dem Glauben bis in seine Verästelungen hinein rational nachzudenken, das filioque voraussetzt, während im byzantinischen Einflussbereich dieses „rationale Nach-Denken des Glaubens zwar nicht kategorisch verboten, aber doch strengen Restriktionen unterworfen“ wurde (Peter Gemeinhardt). Jedenfalls hat Timms These einen heuristischen Effekt auf mich gehabt – und ich habe gelernt, dass scheinbar abseitige Fragen theologischer Systematik weit über das christliche Denken hinausgehende Prägungen hervorrufen können.

Mit ihrer Annäherung an das ursprüngliche, das statische Modell der Orthodoxen bewegen sich die Lutheraner jedenfalls aus dem Konsens der westlichen Tradition hinaus – aus Freundlichkeit und um ein ökumenisches Zeichen zu setzen, vermute ich. Aber wissen sie, was sie damit tun? Braucht nicht politisches Denken ein Bewusstsein dafür, dass der eigene Ort eben nicht absolut dasteht, sondern eine Folge von Veränderungen darstellt und in Zukunft Veränderungen unterliegen wird? Braucht es nicht statt Standpunkten, auf die man sich trotzig zurückzieht, dialogisches Aufeinanderzugehen? Braucht es nicht statt moralischer Rechthaberei ein Bewusstsein für die Relativität, Geschichtlichkeit und Vorläufigkeit eigener Überzeugungen? Braucht es nicht Rationalität statt Meinung?

Vielleicht ist das filoque als Symbol dafür so abseitig gar nicht …