27. Jahrgang | Nummer 18 | 26. August 2024

Dreimal 1. September

von Gerhard Schewe

Sommer 1939. Ich war gerade neun geworden. Die großen Ferien hatten wir wie immer in der pommerschen Heimat meines Vaters verbracht. Und wie immer drehte sich in diesen Wochen alles um die Ernte. Ich habe noch heute das Bild der zum Trocknen aufgestellten Garben vor Augen, das abendliche Dengeln der Sensen im Ohr: der stets gleiche Einklang des bäuerlichen Lebens mit der Natur. Und doch war es diesmal irgendwie anders. Eine merkwürdige Unruhe lag in der Luft, Gerüchte machten die Runde … Geht es los mit Polen? Die Fragen klangen besorgt; unser Dorf lag keine 50 Kilometer von der Grenze entfernt.

An den Tag, an dem es wirklich losging – „seit 5.45 wird jetzt zurückgeschossen“ – kann ich mich seltsamerweise nur schwach erinnern. War es ein normaler Schultag? Wie verhielten sich Eltern, Nachbarn, Mitschüler angesichts dieser Kriegsankündigung? Musste geflaggt werden? Von der Zeit verweht …

Andere Bilder aus diesen turbulenten Tagen zwischen Frieden und Krieg sind mir hingegen in deutlicher Erinnerung geblieben: mein Vater in Wehrmachtsuniform, Luftschutzübungen, verdunkelte Fenster, die ersten Lebensmittelkarten … Für uns Kinder ein Abenteuer, und die Erwachsenen? Hätten zumindest diejenigen, die den Ersten Weltkrieg noch miterlebt hatten, nicht aufgeschreckt sein müssen? Aber wahrscheinlich brachten die schnellen militärischen Erfolge jedes Bedenken zum Schweigen: Alles halb so schlimm, bis Weihnachten sind die Jungs wieder zu Hause. Dass die Dinge einen so völlig anderen Verlauf nehmen würden, konnte damals wirklich noch niemand voraussehen.

Dreißig Jahre später, an historischem Ort. Wir nutzten einen Urlaub irgendwo an der Danziger Bucht, um mit unserem Wartburg zur Westerplatte zu fahren. Es war dies ein Militärstützpunkt, den Polen gemäß einer internationalen Regelung im Hafengelände der seinerzeit vom Völkerbund verwalteten Freien Stadt Danzig unterhielt. Und genau hier hatte der offiziell zu einem Freundschaftsbesuch ein-getroffene deutsche Panzerkreuzer „Schleswig-Holstein“ im Morgenlicht des 1. September mit dem „Zurückschießen“ begonnen. Betongraue Ruinen zeugen noch heute davon, Soldatengräber, das hochragende Mahnmal aus späterer Zeit. Wir standen lange Zeit stumm davor, im Widerstreit der Gefühle. Was wäre, wenn es diesen Tag nicht gegeben hätte? Wie anders sähe die Welt wohl aus? Oder musste es so kommen? Unausweichlich? Schon Napoleon hatte von der Fatalität historischer Abläufe gesprochen. Gedenken hat eben immer auch mit Nachdenken zu tun.

Noch einmal zehn Jahre später, wieder ein sommerlicher Urlaubstag, diesmal auf Rügen. Der Wanderweg von Binz zum Jagdschloss Granitz führte an einem kleinen Waldfriedhof vorbei. Und gleich am Eingang fiel unser Blick auf einen schon leicht verwitterten Grabstein: Gefreiter Sowieso, gefallen am 1. September 1939. Ungläubiges Nähertreten. Schweigen. Natürlich wussten wir, dass in diesem Krieg Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten. Aber dieser eine hier, vielleicht der allererste, mit Namen, Alter, Heimatort aus der Anonymität hervorgehoben, dieser Junge von der Insel, warum gerade der? Der Schock saß tief.

Möge sein Grabstein erhalten geblieben sein, zur bleibenden Mahnung und Erinnerung für die Vorbeikommenden. Es ist schon zu viel vergessen worden, auch dass der 1. September einmal als Weltfriedenstag im Kalender verzeichnet stand. Er gehört zu unserer Erinnerungskultur!