Am 29. Mai ist Südafrikas Bevölkerung zum siebten Male nach dem Ende der Apartheid an die Wahlurne gebeten. Vor 20 Jahren, als die Südafrikaner gerade zum dritten Male frei wählen konnten, hatte ich die seltene Gelegenheit, mich völlig angstfrei mitten unter den Bewohnern Khayelitshas aufhalten zu können.
Dabei galt Khayelitsha schon damals als größtes und gefährlichstes Township Kapstadts. Ein Meer aus Blech-, Holz- und Papphütten am Rande der Metropole mit einer der höchsten Kriminalitätsraten weltweit. Entstanden war es in den 1960er Jahren im Gefolge des radikalen „Entmischungsprogramms“ des Apartheid-Regimes. Ganze Multikulti-Stadtteile – wie der für seine kreative Vielfalt berühmte Kultur-Hotspot „District Six“ – wurden damals von Bulldozern plattgemacht, die Bewohner nach Hautfarbe und Herkunft sortiert und in unterschiedliche Freilichtgefängnisse gesperrt, eben die Townships. Die durfte nur verlassen, wer eine amtliche Genehmigung vorweisen konnte, etwa einen Arbeitsvertrag als (schlecht bezahltes) Dienstpersonal in einem Haushalt der weißen Oberschicht.
Der Name „Khayelitsha“ ist das isiXhosa-Wort für „Neue Heimat“. Genau das ist das Hüttenmeer für die Bewohner wohl bis heute geblieben. Nach dem Fall des Regimes galt zwar Bewegungsfreiheit für alle, aber noch zehn Jahre nach den ersten freien Wahlen in Südafrika nahmen sich Fremde in Kapstadt besser die dringende Empfehlung der Einheimischen zu Herzen und waren nach 18 Uhr nicht mehr ohne stadtkundige Führer oder Fahrer unterwegs. Wie also war es möglich, dass weiße Mitteleuropäer von den Bewohnern Khayelitshas mit offenen Armen in Empfang genommen wurden, unter Hochrufen, mit Händeschütteln und Schulterklopfen, Fragen und Geschichten, Gesang und fröhlichem Gelächter?
Im „Künstlerhaus“ im schweizerischen Boswil hatte ich 2001 an einem Seminar teilgenommen, bei dem eine bunt zusammengewürfelte Gruppe Interessierter stundenlang mit dem Jazz-Altmeister und ehemaligen Apartheid-Flüchtling Abdullah Ibrahim zusammensaß und über Gott und die Welt und Musik philosophierte. Südafrika und seine schmerzhafte Geschichte und speziell Kapstadt, die Heimatstadt des Meisters, tauchten in den Geschichten naturgemäß immer wieder auf. So hatte es für mich, nach all dem Gehörten, etwas Zwingendes, dass das nächste Seminar mit Abdullah Ibrahim drei Jahre später in Cape Town stattfinden sollte.
Und so fand ich mich im April 2004 mit sechs, sieben anderen Interessierten unmittelbar vor den dritten freien Wahlen in der Geschichte Südafrikas in Kapstadt wieder. Nicht dass wir viel davon bemerkt hätten, aber Abdullah Ibrahims M7 Communities Project, in dessen Rahmen das Seminar organisiert war, hatte als Führer und Fahrer für uns einen Mister Abraham Lincoln Taylor, kurz Aby, angeheuert, ein in Khayelitsha aufgewachsenes und inzwischen dort als Sozialarbeiter beschäftigtes ANC-Mitglied indischer Abkunft. Aby war es, der anbot, uns an diesem Wahltag nach Khayelitsha zu fahren, denn er kannte seinen Kietz gut genug, um zu wissen, was dort wann unmöglich oder eben auch möglich war.
Abdullah Ibrahim hatte uns im Stadtzentrum bereits mit einer Handvoll Bewohner Khayelitshas zusammengeführt: Im Kursraum des M7-Zentrums begegneten wir drei jungen Lehrerinnen aus dem Township, die zu dem Treffen ein paar 6- bis 12-jährige Kinder mitgebracht hatten – ihre Schüler, die meisten zum ersten Mal außerhalb ihres alltäglichen Lebensraumes und entsprechend zurückhaltend, uns fremde Weißgesichter mit großen Augen studierend, die Kleineren schmiegten sich dabei zur Sicherheit an ihre Lehrerinnen, während die von ihrem Leben in Khayelitsha erzählten. Eingeprägt hat sich mir vor allem, wie sie die Erleichterung beschrieben, mit der sie jeden Morgen die in der Schule eintreffenden Kinder in Empfang nahmen. Denn wenn eines nicht rechtzeitig da war, konnte das bedeuten, dass es irgendeinem Schusswechsel zwischen rivalisierenden Gangsterbanden zum Opfer gefallen war. Ein „Kollateralschaden“ im alltäglichen Krieg um Macht und Kontrolle über das Township.
Und dahin wollte uns Aby also bringen, nachdem er seinen Wahllokal-Hilfsdienst für den ANC geleistet hatte. Er war sich sicher, dass an diesem Festtag in Khayelitsha so wenige Verbrechen verübt würden wie seinerzeit in den USA an jenem Tag im Februar 1964, als die Ed Sullivan Show mit den Beatles über die Fernsehschirme flimmerte, oder am 20. Juli 1969 während der Live-Übertragung der ersten Mondlandung.
So war es auch: Lange Schlangen von bestens gelaunten Menschen füllten die Straßen vor den Holztischen, an denen die Helfer-Teams vor ihren Unterlagen und den Urnen-Schachteln saßen. Ganze Familien und Clans hatten sich versammelt und feierten ihre lange und schmerzlich entbehrte Freiheit gemeinsam mit uns Exotik-Gästen und -Freunden des beliebten Aby. Eine Begeisterung und ein Stolz, wie wir sie uns, an demokratisches Ritual längst gewöhnt, wenn nicht gar dagegen abgestumpft, kaum vorzustellen vermögen. Wer von den Feiernden am nächsten Tag seine Nachbarn wieder mit der Waffe terrorisieren und wer seine Opfer sein würden – für uns war das nicht zu unterscheiden.
Aber das allein machte noch nicht das Heilsame der Lektion aus, die uns da auf diesem einmaligen Bildungstrip in die Lebensuniversität von Khayelitsha unter der Anleitung von Abraham Lincoln Taylor erteilt wurde. Ein Blick auf die Umgebung all des fröhlichen Volks genügte – schon stach einem ins Auge, dass dieser grand jour de fête des Bürgerstolzes mitten in einem riesigen Meer erbärmlicher Hütten begangen wurde. Unsere Frage, was der ANC in zehn Jahren für diese Menschen und ihre Befreiung aus ihren Nöten erreicht habe, dem Anschein nach könne das nicht allzu viel sein, hörte sich Aby geduldig an und deutete dann auf ein paar Masten, die in 50, 60 Meter Entfernung die Hütten überragten und durch Drähte verbunden waren: Stromleitungen, die gab’s nicht vor zehn Jahren; und dort die beiden Backstein-Häuschen 100 Meter die Straße aufwärts, das sind eine Wasserstation und eine Toilette; solcherlei hie und da über das ganze Elendsgebiet hingestreut einzurichten, das war zu Apartheid-Zeiten undenkbar. Aber wir sollten uns keine Illusionen machen: Der ANC konnte nach seinem Machtantritt nicht einfach in die Townships einfahren und sich an solche Installationen machen. Einen derartigen Affront hätten sich die Gangster-Bosse niemals bieten lassen, da wäre jede Menge Blut geflossen. Es musste ausführlich mit ihnen über jeden Standort und über das Prozedere und über die Aufteilung des „Image-Profits“, den jede solche Aktion abwarf, verhandelt werden. Andernfalls wäre weit weniger als auch nur ein Quäntchen Nützliches für die Menschen passiert …
Es war für mich eine unvergessliche Lektion in Sachen Bedeutung von Freiheit einerseits und Komplexität der Erbschaft andererseits, die Terror-Regierungen wie das Apartheid-Regime Südafrikas ihren Nachfolgern hinterlassen. Als ich meinem inzwischen 85-jährigen Schwiegervater von diesen Einblicken in die Schwierigkeiten erzählte, denen sich ein ANC auch noch nach Jahren an der Regierung gegenübersah, da nickte er leise mit dem Kopf und schmunzelte: Er habe als Architekt jahrelang in der Stadtbau-Planung unserer Heimatstadt Solothurn gearbeitet, und bei allen Aufträgen zur Wasser- und Elektrizitäts-Versorgung habe es um die Ausschreibungen regelmäßig harte Rangeleien gegeben zwischen den verschiedenen Anbietern, wer denn diesmal an der Reihe sei, der Bevölkerung als Privatier den staatlichen Infrastruktur-Segen erteilen zu dürfen – na ja: Wenigstens Schusswaffen seien nicht mit im Spiel gewesen, aber vergleichbare Geschichten könne man auch bei Gottfried Keller oder Jeremias Gotthelf nachlesen …
Nächstens werde ich wieder einmal Aby kontaktieren, was es aus Khayelitsha Neues zu berichten gibt. Hoffentlich leben all die Kinder noch, denen wir damals in Kapstadt begegnet sind, und geben ihre Stimme ab.
Benjamin Kradolfer (Jahrgang 1959) war Schauspieler, unter anderem am Deutschen Theater Berlin, bevor er sich in seiner Schweizer Heimatstadt Solothurn der Arbeit mit psychisch beeinträchtigten Menschen widmete.
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