Kurt Hiller – Pazifist, Strafrechtsreformer, Sozialist und Weltbühne-Autor – hat 30 Bücher und etwa 1500 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel veröffentlicht und war daneben ein eminent produktiver Briefschreiber; nach eigener Aussage hat er sich 24 Stunden in der Woche mit Briefen beschäftigt. An die 30.000 Briefe dürfte er auf diese Weise verfasst haben, und etwa die gleiche Anzahl wurde ihm wohl zugesandt.
Hiller hat die an ihn gerichteten Briefe sorgsam aufbewahrt – allerdings sind „schätzungsweise fünf- bis sechstausend Briefe“ – so er selbst im ersten Band seiner Autobiographie – am 7. März 1933 unwiederbringlich verlorengegangen, als ein SS-Trupp in seine Wohnung in Berlin-Friedenau einbrach und alles Material wegschleppte und vernichtete, darunter Briefe von Albert Einstein und Sigmund Freud, Thomas und Heinrich Mann, Tucholsky und Ossietzky, Martin Buber, Erich Kästner, Romain Rolland, André Gide … Doch der Autor begann erneut zu sammeln, zunächst unter den unzureichenden Umständen des Exils, später in seiner Hamburger Wohnung. „Aus den Briefkonvoluten auch längst zurückliegender Korrespondenzen“, so die Herausgeber eines im vorigen Jahr erschienenen Tagungsbandes zu Hillers Korrespondenzen, der den schlichten Titel „Kurt Hiller – Briefe“ trägt, „zog Hiller für jeweils aktuelle Schreibprojekte oftmals seine Anregungen. Sie waren ihm Inspiration und intellektuelle Stütze bei der Entwicklung eines Schreibvorhabens.“ Von den erhaltenen Briefen gingen nach Hillers Tod durch Verkäufe, die die unmittelbaren Erben aus finanziellen Gründen unternahmen, noch etliche verloren; etwa 23.000 sind in seinem Nachlass bewahrt geblieben.
Schwieriger ist naturgemäß die Sammlung der von Hiller selbst geschriebenen Briefe: „6.500 davon befinden sich als Durchschläge oder Originale in seinem ursprünglichen Nachlass, 1.500 kamen ins Archiv der Kurt Hiller Gesellschaft (u.a. Schenkungen), 1.500 sind in anderen deutschen Archiven (wie Bundesarchiv, Marbach etc.). Rund 20.000 seiner Briefe sind weit verstreut bei Hunderten von Korrespondenzpartnern oder wurden dort von ihren Empfängern, deren Nachkommen, deren Erben bewusst oder achtlos vernichtet“ (Harald Lützenkirchen in seinem abschließenden Essay).
Etwa 30.000 Briefe liegen heute in dem Nachlass vor, den die Kurt Hiller-Gesellschaft übernommen hat, und 2343 unterschiedlich Korrespondenzpartner verzeichnet die Bestandsliste im Hinblick auf die noch existierenden Dokumente.
Der vorliegende Band „widmet sich in Einzelbeiträgen dem Briefeschreiber Kurt Hiller und nimmt einige seiner Korrespondenzen näher unter die Lupe“: die mit den Schriftstellern Armin T. Wegner und Paul Zech, mit Wolfgang Abendroth und Ossip K. Flechtheim, mit Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, mit dem Komponisten Rudolf Walther Hirschberg und den SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer und Willy Brandt. „Im Medium des Genres ‚Brief‘ nähern sich die hier versammelten Aufsätze Aspekten der Hillerschen Biographie und seiner Korrespondenzpartner“ an – jeder einzelne ist lesenswert. Mich hat besonders Alfred Hübners Beitrag „Von Dir verlassen zu werden, wäre ein schwerer Schlag“ über den Briefwechsel Hillers mit Paul Zech interessiert, dessen Qualität als Lyriker Hiller schon etwa 1910 erkennt und mit dem ihn bis zu Zechs Tod im September 1946 eine Zweckfreundschaft verbindet, in der Privates und Berufliches – vor allem die Suche nach Verdienstmöglichkeiten unter den Bedingungen des Exils – zur Sprache kommen. Hübner zitiert hier ein Eingeständnis Zechs vom 14. Juni 1936 nach einem Gespräch mit Stefan Zweig: „Mir wäre allerdings wohler, es wäre nicht geschehen“ und folgert daraus, dass Zech mit Zweig „keine durchgängig harmonische Freundschaft“ gepflegt habe und dass „alle gegenteiligen Darstellungen in der einschlägigen Sekundärliteratur falsch“ seien. Gegen diese Folgerung, die – wie Hübner zugeben muss – „einzig aus der Korrespondenz mit Hiller“ hervorgehe, spricht freilich der Briefwechsel zwischen Zweig und Zech, der ungefähr dieselbe Zeitspanne umfasst wie der zwischen Zech und Hiller, erst mit dem Tode Zweigs endet und den Donald G. Daviau 1984 herausgegeben hat (bei Fischer 1986 wohlfeil als Taschenbuch erschienen) Dagegen spricht vor allem aber Zechs „Gedenk-Schrift“ auf Stefan Zweig von 1943. Doch das sind Interpretationsquisquilien.
„Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann“, hat Goethe einmal gesagt. Schade, dass es diese Kultur in Zeiten von social media kaum mehr gibt. Umso wichtiger ist es, die vorhandenen Korrespondenzen von unermüdlichen Briefschreibern wie Hiller zugänglich zu machen. Von den vorliegenden etwa 9500 Briefen Hillers sind bereits etwa 4000 digitalisiert, die man bequem nach Stichworten durchforsten kann. Für die erhaltenen Teile der Briefsammlung Hillers wünscht man sich das gleiche, bleibt sie doch ein unverzichtbarer Fundus der Forschung zur Literatur- und Sozialgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Kurt Hiller: Briefe. Beiträge einer Tagung der Kurt Hiller Gesellschaft und des Braunschweigischen Instituts für Regionalgeschichte, 5./6. Oktober 2022 – nebst ergänzender Studien. Herausgegeben von Reinhold Lütgemeier-Davin und Rolf von Bockel, von Bockel Verlag, Neumünster 2023, 296 Seiten, 29,80 Euro.
Schlagwörter: Hermann-Peter Eberlein, Kurt Hiller