Wir alle kennen sie, wie nervig die Tipps all derer sind, die „wie ein Blinder von der Farbe reden“. Urteile über Situationen, denen man selbst nie ausgesetzt war und demzufolge auch über keine eigenen Erfahrungen verfügt, gehen zunehmend mehr Menschen recht locker über die Lippen, ja mehr noch, sie fluten die Medien und die Stammtische.
Das betrifft alle Bereiche unserer alltäglichen Lebensgestaltung. Bei sportlichen Großereignissen werden wir alle plötzlich zu Experten, ohne jemals die Sportart betrieben zu haben, bei der Kindererziehung reden natürlich auch all die mit, die selbst keine haben, in der Pandemie waren wir alle Virologen, Pharmazeuten und Sozialhygieniker und das ohne zwölf Semester Medizinstudium und fünfjährige Facharztausbildung. Angesichts der verheerenden Bilder militärischer Auseinandersetzungen stilisieren sich selbst Wehrdienstverteidiger zu den größten Waffenexperten.
So sind wir eben, der gebildete und vor allem emanzipierte Bürger, ohne ihn wäre keine freiheitlich-demokratische Grundordnung denkbar. Zu allem und über jeden ist seine Meinung gefragt. Da es nach herrschender Meinung ohnehin keine Wahrheit gibt bzw. diese sich in einer Vielzahl von Wahrheiten aufzulösen scheint, ist die Beliebigkeit einer jeden Position zur demokratischen Selbstverständlichkeit geworden. Schon der Versuch, zu strukturieren, zu analysieren, auf Erfahrungen zu referenzieren und zu wichten setzt sich dem Verdacht aus, auf autoritären Glaubensgrundsätzen aufzubauen und die Freiheit der Meinungsäußerung beschränken zu wollen.
Die Welt der Leistungsträger sieht anders aus. Warum – so stellt sich die Frage – sind erfolgreiche Trainer zumeist diejenigen, die die Sportart selbst betrieben haben, warum benötigen Piloten eine bestimmte Anzahl Flugstunden, ehe sie entsprechende Lizenzen bekommen, warum zählen Berufserfahrung und Referenzen mehr als Bildungsabschlüsse?
Es ist nicht Willkür, dass derjenigen, der einen fachfremden Meister machen möchte, neben seiner Gesellenprüfung eine Berufserfahrung von mindestens drei bis vier Jahren in dem gewählten Fach vorweisen muss. Was für Meister bindend ist, scheint für Spitzenbeamte, Führungspersonal bis hin zum Minister in Deutschland kaum zu gelten.
Die Zusammenhänge, die dabei wirken, sind gar nicht so kompliziert und seit Jahrhunderten bekannt. Es ist sinnvoll, zu unterscheiden zwischen dem „semantischen Wissen“, das heißt Wissen um Sachverhalte und Prozesse, die in Begriffen und Theorien ihre Abbildung erfahren, und dem „episodischen Wissen“, das Erfahrungen, Erlebnisse und Ereignisse abbildet, die im eigenen Erleben eine Spur im Gedächtnis hinterlassen haben.
Es ist in vielfältiger Hinsicht bedeutungsvoll, diese Unterscheidung zu beachten.
Im mental-kognitiven Bereich markieren sie unterschiedliche Wissensformen, die jeweils nur einen Teilbereich der Kompetenzentwicklung ausmachen. Das Wissen um theoretische Zusammenhänge ist ebenso wichtig, wie die Intuition bei der Mustererkennung im schwer überschaubaren, aber bereits erlebten Einzelfall. Gerade bei komplexen Zusammenhängen, wie z.B. bei der Deeskalation in Krisensituationen, ist ein Erfahrungsschatz in analogen Situationen außerordentlich wichtig. Jeder Fahranfänger weiß, was die Anzahl von erfahrenen Verkehrssituationen bewirkt. Auch bei der Erziehung des zweiten Kindes stellt sich mehr Gelassenheit ein, als es beim ersten der Fall war. Warum fahren Bob-Piloten die Eisrinne hunderte Male hindurch, bevor sie zur Spitzenklasse gehören? Die semantische Beschreibung des Eiskanals gehört dazu, macht aber nicht den Champion aus. Zum Erfahrungs-Wissen gehört auch zum Teil das „implizite Wissen“, das nur unter bestimmten Reizen aktivierbar ist. Wir alle haben schon erlebt, wie Gerüche, solche Reize auslösen können, bei denen plötzlich alte Kindheitserinnerungen wach gerufen werden deren man sich nicht mehr bewusst war. Was aber nicht „drin“ ist im Langzeitspeicher, das kann auch nicht aktiviert werden. „Erfahrungsloses Wissen“ ist lebloses, abstraktes Wissen, es ist reduziert auf Zeichen und Symbole die sehr verschieden interpretierbar sind. Das sinnlich wahrgenommene und erfahrene Wissen, das ist zumeist mit emotionalen Markern versehen, tief verankert und fest biografisch eingebunden.
Auch im pädagogisch-lerntheoretischen Bereich ist die Unterscheidung wichtig.
Ein gravierender Unterschied der beiden Wissensformen besteht darin, das „episodisches oder erfahrungsbestimmtes Wissen“ immer an das individuelle Erleben gebunden ist. Wie das Vanille-Eis schmeckt, oder welche Angst mich beschleicht, wenn ich allein im dunklen Wald bin, das ist an meine Person gebunden. Die Welt meiner Psyche, die gehört nur mir. Es ist zwar möglich, auf einer Metaebene über Erfahrungen zu sprechen und diese zu beschreiben, aber das sind dann keine Erfahrungen mehr, sondern deren Beschreibungen.
Fälschlicherweise wird das häufig als die „Überlieferung“ oder „Vermittlung“ von Erfahrung bezeichnet. Ein Erfahren, im Sinne des Erlebens auf der Individualebene kann dadurch nicht ersetzt werden. Der beste Ratgeber für erotische Abenteuer, kann bekanntlich das sinnliche Abenteuer, die Reize, den Kick oder die Enttäuschung nicht ersetzten. Offensichtlich nimmt das relative Maß an erfahrungsbedingtem und erlebtem Wissen, gegenüber dem vermittelten und angelernten semantischen Wissen immer mehr ab. Mit der explosionsartigen Zunahme des Weltwissens, dem Anstieg der Ausbildungszeiten und den 7/24-Zugriffsmöglichkeiten im Internet nimmt das semantische Wissen zu und das erfahrungsbedingte Wissen im Vergleich dazu ab.
Zugleich gaukelt die virtuelle Welt, uns gerne den Eindruck eigener Erlebnis-und Erfahrungswelten vor. Deshalb sollte den Erfahrungen bei der Reifung und Beurteilung der Persönlichkeit ein großer eigenständiger Raum eingeräumt werden. Ganz gravierend wird es, wenn die Unterschiede der Wissensformen im sozialen Bereich nicht bedacht werden.
Eine wunderschöne Volksweisheit, deren Quelle ich leider nicht mehr zuordnen kann, bringt das treffend zum Ausdruck: „Wenn Du als Neuer in ein Dorf kommst, solltest Du nicht versuchen den Bewohnern ihre Geschichte zu erklären.“ Die Ablehnung der Dorfbevölkerung gegenüber einem solchem Versuch basiert auf dem Unvermögen des semantischen Wissens, etwas beurteilen zu können, was selbst nicht erlebt wurde. Vergleichsweise kommt es dem Versuch gleich, festzulegen, ob mir das Vanille-Eis nun schmeckt oder nicht und ob ich Angst haben sollte im dunklen Wald oder nicht. Bei einem solchen Versuch entsteht eine „koloniale“ Situation, in der der „Besser-Wisser“ dem vermeintlichen „Nicht-Wissenden“ seine Geschichte, seine Gefühle, seine Empfindungen, seine erfahrene Wirklichkeit erklärt.
Das findet seit 33 Jahren nicht selten auf deutschem Boden statt und zieht sich durch alle politischen Parteien, Institutionen und Medien. Nicht Neugier aufeinander ist dabei die treibende Kraft, nicht die Erwartung auch etwas lernen zu können. Das Urteil steht von Beginn an fest: Die „Neuen“ erklären den „Eingeborenen“ nicht nur, wie es in Zukunft läuft, sie erklären ihnen auch gleich noch mit, wie ihre Geschichte eigentlich verlief und wie sie diese erfahren haben sollten. Das ist praktizierter Kultur-Imperialismus. Vielleicht sind die „Dorfbewohner“ des „Dunkel-Deutschlands“ nur zu sensibel?
Interessanterweise wird in Führungskräfte-Trainings beständig (und zurecht) darauf geachtet, bei Bewertungen von konkreten Situationen und Personen, nur in der ersten Person zu urteilen. Hier wird zurecht auf das jeweilige erfahrungsbezogene Wissen des Gegenübers geachtet und deren Einzigartigkeit respektiert.
Im missionarischen Einsatz zur Bekehrung anderer Völker wird das keineswegs so gehandhabt. Letztendlich ist es das Dilemma jedes missionarischen Auftrages, die Kultur, die Geschichte, die Tradition anderer Völker zu missachten und die eigene Sicht, die eigenen Erfahrungen als Modell zu installieren. Wir können nicht erfahrungslos wissen (obzwar wir es annehmen) wie etwa patriarchalische Verhältnisse durch „Andere“ erfahren werden, wie Gleichberechtigung in anderen Kulturen subjektiv erfahren wird, welchen Stellenwert materieller Konsum ausmacht et cetera.
Ist es nicht so, dass ein Glauben an die Wiedergeburt, oder an ein Weiterleben im Paradies, das Verhältnis zum Tode oder zur Todesstrafe derart beeinflussen, dass dann auch das Leben möglicherweise ganz anderes erfahren wird als im Christentum oder bei den „Ungläubigen“ üblich? Wer kann sich hier ein Urteil anmaßen, was für den anderen bindend wäre? Dass ist keine Frage des semantischen Wissens. Wer es nicht „erfahren“ hat, der sollte nachfragen, zuhören, aber nicht für andere urteilen.
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