Ledderboge war Anfang vierzig, als er den Auftrag erhielt. Der Job dauerte etwas mehr als drei Jahre, dann gab es am 27. April eine feierliche Eröffnung. Das war vor genau vierzig Jahren. Der Jubilar feiert nicht. Er wird seine Gründe haben. Ich hoffe aber nicht, dass er sich des Vaters und der Mutter schämt, weshalb er nicht an die Geburt erinnern möchte. Der Vater hieß nämlich Honecker und die Mutter DDR. Und das kam so.
Der alte Friedrichstadtpalast war einst auf Eichenstämmen errichtet worden wie die meisten Gebäude im Urstromtal der Spree, also auf Sand gebaut. Die Stämme faulten, die Wände rissen, die Schäden waren irreparabel. Also wurde der Abriss beschlossen. Ein Neubau musste her, der erste Mann im Staate wollte ein Revuetheater – größer und moderner als das alte. Weltniveau natürlich. Und nur wenige hundert Meter weiter an der Friedrichstraße. Da gab es eine Leerstelle zwischen Johannis- und Ziegelstraße, zwischen Regierungshotel und Universitätsaugenklinik, hundert mal achtzig Meter messend.
Früher stand dort mal die Kaserne fürs 2. Garderegiment zu Fuß, wofür noch Schinkel die Baupläne geliefert hatte, dann zog in der Weimarer Zeit ein Finanzamt ein, und 1945 war’s eine Ruine. Bis zu Beginn der sechziger Jahre schlug dort Zirkus Busch sein Zelt auf, jetzt standen nur noch Autos auf der Freifläche. Warum, der Gedanke kam gewiss nicht aus Calau, sollte dort künftig anstelle des Garderegiments zu Fuß nicht ein Ballett die Beine bewegen? Natürlich auch in Uniform, aber eben bunter und ziviler.
Der Bauingenieur Jürgen Ledderboge wurde mit der Oberbauleitung beauftragt. Sein Name wird in den einschlägigen Publikationen immer verschwiegen. Man nennt die Architekten Manfred Prasser und Dieter Bankert, den Generalprojektleiter Walter Schwarz und den Generaldirektor der hauptstädtischen Baudirektion Ehrhardt Gißke. Doch dem Kommandeur vor Ort erging es so wie den Erbauern des siebentorigen Theben, nach denen bekanntlich Brecht einen lesenden Arbeiter fragen ließ. Ledderboge dirigierte Tag um Tag bis zu sechshundert Arbeiter. Wenn also planmäßig am Vorabend des 1. Mai 1984 das Haus übergeben werden konnte und nicht nur die Bauherren und deren Auftraggeber, sondern auch die gefeierten Erbauer im Auditorium saßen, war das nicht zuletzt ihm und seiner qualifizierten Leitung zuzuschreiben. Das einzig Ungeplante waren vielleicht die Kosten: Es sollten 219 Millionen Mark ausgegeben werden und man landete bei 214 Millionen, hatte also fünf Millionen eingespart. Und auch der Auftritt von O. F. Weidling verlief nicht ganz so wie geplant. Weidlings Conférence missfiel augenscheinlich dem Wirtschaftshäuptling der DDR. Mittag soll anschließend verfügt haben, dass für Weidling Feierabend im Fernsehen war. Damit aber hatte Ledderboge nichts zu tun, er war schon unterwegs zu seiner nächsten Großbaustelle: dem Abriss des alten Friedrichstadtpalastes.
Die Errichtung, besser: die Erschaffung des neuen Friedrichstadtpalastes, des außerhalb von Las Vegas größten Revuetheaters der Welt, war ein Meisterstück. Hätte Klaus Staeck nicht schon einige Jahre zuvor sein Spitzweg-Plakat mit der Verlegerweisheit gestaltet „Nur die Armut gebiert Großes“, hätte man vermuten können, er hätte Ledderboge & Co. über die Schulter geschaut. Die geplante Fassade aus Stahl, Glas und Aluminium konnte und wollte man sich nicht leisten. Also entwickelten sie Stahlbetonelemente mit diesen farbigen Glassteinen, die das Licht ins Innere streuten. Sie verzichteten auf kostspielige Einbauten aus Holz und nahmen dafür ebenfalls Beton. Um Energie zu sparen, baute man im Funktionstrakt Oberlichter ein. Und für die Lampenkörper im Foyer wurden Glasröhren von Rindermelkanlagen verwendet, die die kreativen Formgestalter, heute Designer genannt, in Kronleuchter verwandelten. Sie nahmen damit ein Element aus dem alten Palast auf, jene 1200 Rabitzzapfen in der Saalkuppel, weshalb das Haus „Tropfsteinhöhle“ genannt worden war. (Der neue Palast hieß übrigens schon bald „Aserbaidschanischer Bahnhof“ – nicht ganz abwegig: Die Vorlage war ursprünglich für einen Kulturbau in Bagdad gedacht.) Die Bauleute vermauerten überdies in den Werkstätten und Garderoben Kalksandstein, um die Innenwände nicht verputzen zu müssen. Und um die Steine ordentlich zu verfugen, arbeiteten die Bauleute mit Löffeln. Praktischerweise gleich aus der Kantine. Weshalb die Küche immer nachkaufen musste, denn die Löffel waren – wer weiß das von den Älteren unter uns nicht – aus Aluminium.
Es wurde, wie man sieht, viel improvisiert. Selbst beim Gold- und Silberflitter für die Premiere entschied man sich für ein Substitut. In Oranienburg produzierte ein Betrieb Folien für Kaffeeverpackungen. Der wollte augenscheinlich seinen Plan für mehrere Jahre erfüllen und verlangte, dass zehntausend Quadratmeter – also ein ganzer Hektar – statt der gewünschten fünftausend gekauft werden sollten. Also musste sich die Bauleitung (!) kümmern, dass sie den überflüssigen Rest anderweitig loswurde. Es bestand gottlob auch an anderen Bühnen Bedarf.
Der Friedrichstadtpalast war nur ein einziges Bauwerk, wenngleich das größte, im Komplex Friedrichstraße Nord. Aber kein Solitär. Es entstanden parallel weitere Neubauten: Wohnhäuser und eine Schule an der Wilhelm-Pieck-, jetzt Torstraße, Kindergärten, Geschäfte und Fernwärmestränge, an die auch das Deutsche Theater, Universitätskliniken, der Johannishof und andere Gebäude im Dreh angeschlossen wurden. Es wurde hier tatsächlich komplex gebaut und nicht Stückwerk abgeliefert. Die „Komplexität“ zeigte sich auch in den Nebenwirkungen. Aus der siebzehn Meter tiefen Baugrube wurden etwa dreitausend Kubikmeter Wasser in die nahe Spree gepumpt. Stündlich – und das zehn Monate lang. Alle Gebäude im Umkreis von sechshundert Metern wurden dabei regelmäßig vermessen. Und in der Tat sackten sie um bis zu sechs Zentimeter ab. Als nicht mehr gepumpt wurde und der Palast aus dem Keller wuchs, hoben sich die Häuser wieder auf ihr früheres Maß. Bis auf den alten Friedrichstadtpalast. Der blieb auf seinem alten Pegel: 52 Zentimeter unter NN (Normalnull).
Ledderboge biss sich die Zähne aus, könnte man sagen. Im Oktober ’83 schickte Gißke seinen Oberbauleiter, weil dieser schon geraume Zeit über Schmerzen klagte, aus einer Sitzung in die Zahnklinik der Charité. Nach gründlicher Untersuchung befand man dort, dass alle Zähne entfernt und durch Prothesen ersetzt werden müssten. Und das umgehend, damit der Palast pünktlich vollendet würde. Wie gesagt: eine komplexe Baustelle.
Die technischen und andere Parameter lassen sich im Internet nachlesen, darunter auch manch Unsinn. So schreibt Wikipedia: „Mit seinen 1.895 Sitzplätzen ist der Palast seit 1990 der größte Theaterbau in Berlin.“ Das war er, halten zu Gnaden, auch schon in den sechs Jahren zuvor. Inzwischen hat man sich großmütig seiner angenommen, nachdem ursprünglich auch er abgerissen werden sollte. Der Spiegel hatte seinerzeit, bei der Eröffnung, verschwörerisch und geheuchelt mitleidsvoll geraunt: „Was das alles gekostet hat und weiterhin kosten wird, ist Staatsgeheimnis. Die Frage westlicher Korrespondenten nach der Bausumme – und damit nach den vermutlich höchsten Kubikmeterpreisen der DDR – erfährt knappe Antwort: ‚Die Schlussabrechnung liegt noch nicht vor.‘“ Im Februar sechs Jahre später prophezeite die Postille so wortmalerisch wie siegesgewiss das baldige Ende des „Frohsinnskombinats“ mit seiner „palasteigenen Hochbein-Brigade“, in das „zu Tausenden“ das „verhärmte Staatsvolk“, diese DDR-Kleinbürger, „aus den Giftnebeln der Leuna- und Buna-Schlote, aus der Tristesse von Zöschen, Schkopau und Kyritz, mit Bus, Bahn und ächzenden Trabis“ gekommen sei, um nach Karten für sieben bis fünfzehn Mark anzustehen. Nach dem 18. März 1990, den Volkskammerwahlen, werde „der Vergnügungspark in den Trümmern des Arbeiter- und Mauernstaates“ versinken.
Wie beim Palast der Republik versuchte man zunächst, die Asbest-Karte zu ziehen. Ledderboge versicherte damals, dass kein Gramm Asbest auf seiner Baustelle verarbeitet worden sei. Denn: Als die ersten Krankheitsfälle im Palast der Republik festgestellt worden waren, erging Weisung, im Friedrichstadtpalast auf die bis dahin übliche Brandschutzmaßnahme zu verzichten. Man habe nur Gipskarton verarbeitet. Natürlich glaubte man den Bauleuten aus der DDR nicht. Schon aus Prinzip. Doch die Unmasse der Probebohrungen, die vorgenommen wurden, bewiesen, dass Ledderboge und seine Kollegen nicht gelogen hatten.
Dann versuchte man auf andere Weise das Haus zu ruinieren, was aber misslang. Heute zieht das seit 2020 denkmalgeschützte Haus wieder Hunderttausende im Jahr in seinen Bann; Berndt Schmidt – seit 2007 Intendant des landeseigenen Revuetheaters – hat den Friedrichstadtpalast wieder in die Gewinnzone geführt. Und auch sonst liebt er klare Verhältnisse. Nach der Bundestagswahl 2017, als die AfD erstmals in den Bundestag eingezogen war, erklärte der Hausherr selbstbewusst in einem Brandbrief, dass der Palast „eine bedeutende Kulturinstitution im Osten“ sei; daraus erwachse auch eine Verantwortung. „Natürlich, nicht alle AfD-Politiker sind Nazis und auch nicht alle AfD-Wähler*innen. Aber wer AfD wählte, wusste, dass er auch Nazis in den Bundestag wählt. Wer das aus Angst oder Sorge oder Protest in Kauf nimmt, ist ein Brandstifter und Mittäter. No fucking excuse.“
Der jetzt 87-jährige Jürgen Ledderboge, der Oberbauleiter a. D., konnte auch den Schlusssatz von Schmidt unterschreiben: „Der Palast repräsentiert den anständigen Osten.“
Er hat ihn schließlich gebaut.
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